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Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)

Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition)

Titel: Dieses bescheuerte Herz: Über den Mut zu träumen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Amend , Daniel Meyer
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ihm, dass ich morgen nicht zu seiner Beerdigung kommen könne, weil ich den Schmerz nicht aushalten würde. Ich hatte lange gehofft, dass ich es schaffe, aber ich würde dort zusammenbrechen. Meine Kraft reichte nicht mehr. Ich fühlte es. Vinnie war mir nicht böse deswegen. Er sagte, dass er mich auch so lieb hatte. Ich war erleichtert, weil ich schon ein schlechtes Gewissen bekam, aber wenn Vinnie meinte, es sei okay, dann konnte ich mich darauf verlassen. Er hatte mich nämlich nie angelogen, als er noch lebte, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er ausgerechnet beim lieben Gott damit anfing. Dann nahm mich die Seelsorgerin in den Arm, und wir unterhielten uns über den Himmel. Weil sie sehr nett war, fragte ich, ob sie mir Konfirmationsunterricht geben könnte. Ich wollte ja gut vorbereitet sein. Sie versprach es mir. Eine Frage brannte mir besonders auf der Zunge, aber ich musste erst überlegen, wie ich sie formulieren sollte, weil ich ganz durcheinander war. Ich atmete langsam ein und aus, dann fragte ich: »Kommt man auch in den Himmel, wenn man nur getauft wurde? Wenn man im Himmel sein Konfirmationszeugnis vorzeigen muss, dann konfirmieren Sie mich bitte schnell. Denn in die Hölle möchte ich nicht. Der Gedanke macht mir Angst. Ich möchte zum lieben Gott. Geht das?«
    Die freundliche Seelsorgerin sagte gar nichts. Sie sah mich nur an. Dann lächelte sie und erklärte mir alles noch einmal. Sie hatte viel Geduld mit mir. Als ich wissen wollte, ob ich ein schönes Grab bekommen würde, nickte sie und erzählte eine Geschichte von Jesus, die ich mir aber nicht merken konnte. Das war auch nicht wichtig für mich. Wichtig war die Sicherheit, dass im Himmel ein Platz für mich reserviert war. Bei meiner Schwester. Bei meinen Freunden. Auf unserer Wolke.
    Am nächsten Tag fand Vinnies Beerdigung statt. Mama ließ ihren Waschtag ausfallen und saß von morgens bis spät in den Abend hinein im Wohnzimmer und weinte. Sie hörte gar nicht mehr auf. Manchmal, wenn ich neben ihr saß, weinte ich auch, aber nur, damit sie sich nicht so alleine fühlte. Ich überlegte, welches Outfit ich an meiner Geburtstagsparty tragen sollte, kam aber auf keine gute Idee. Lars meinte am Telefon, dass wir vor meinem großen Tag noch shoppen gehen würden und ich mir darüber keine Sorgen machen müsse. Darüber war ich froh, denn ich hatte mir fest vorgenommen, an dem wichtigsten Geburtstag meines Lebens besonders sexy auszusehen. Nicht wegen mir, sondern wegen der vielen hübschen Mädchen, die alle mit mir tanzen wollten.
    Lars betete jeden Abend für mich. Er sagte es nie, aber ich wusste es. Das macht man nämlich für Menschen, die man lieb hat. Ich betete auch für ihn. Dass er schnell gesund werden würde, zum Beispiel, um mich wieder mit auf Abenteuerreise zu nehmen. Und wenn ich für ihn betete, dann tat er das sicher auch für mich. Ich fühlte mich einsam, aber die Hoffnung auf ein gutes Ende und der Glaube an den lieben Gott gaben mir Kraft. Egal, wie schlimm es einem geht, man darf nie aufhören zu kämpfen. Ich wollte es unbedingt schaffen. Nur noch wenige Tage. Meine Blase tat wieder weh. Pipimachen tat wieder weh. Wenn ich auf der Toilette saß und drückte, tropften mir Tränen auf meinen hellblauen Schlafanzug. Die Stellen wurden dann dunkelblau. Aber die Tränen trockneten schnell. Mein Schlafanzug musste deswegen nicht in die Waschmaschine. Mein Herz brannte so fürchterlich, als wollte sich der Teufel dafür rächen, dass ich mich für die gute Seite entschieden hatte, und die Stiche in meiner Leber wurden so schlimm, dass ich nachts kein Auge zubekam und noch mehr weinte. Aber das spielte alles keine Rolle mehr. Ich ertrug es einfach. Ich wollte nicht mehr schwach sein. Ich biss auf die Zähne, ging brav in die Schule und versuchte zu lächeln. Es klappte ganz gut. Aber dann, in der Nacht vor meinem Geburtstag, passierte es. Das Monster erschien. Es kniete vor meinem Bett, schweigend. Nebel kam aus seinem riesigen Maul. Ich flog hindurch und sah Mama und mich einen Schotterweg entlang gehen. Auf einem Friedhof. Das war gruselig. Mama und ich hielten uns an den Händen und gingen langsam auf einen Graben zu. Wir senkten unsere Köpfe und blickten hinab. Der Tote war Ryan. Mein Bruder lag in einem schmalen schwarzen Sarg. Mit weißer Schminke im Gesicht. Mama sprang zu ihm, zog seinen leblosen Körper nach oben und trug ihn auf ihren Armen den ganzen Weg zurück durch den Nebel. Wohin ging sie mit ihm, fragte

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