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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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war, hatte sie sich abgerackert, um Kinder großzuziehen und stilvolle Abendessen zuzubereiten, während sie eigentlich Museumsstücke hätte schmieden sollen. (Abgesehen davon, dass sie nie irgendwas von ihrer Kunst abgehalten hatte; abgesehen davon, dass ihr Mann sich abgerackert hatte, um anderer Leute größtenteils deprimierende und geschmacklos eingerichtete Häuser zu reparieren, damit sie die Freiheit haben würde, zu schaffen, was und wann immer sie schaffen wollte. Sich in seiner eigenen Perspektive zu ergehen war jedoch nicht Sinn dieser geistigen Übung.) Also schien es nur gerecht, dass ihr Mann zum Knecht geworden war, der das Einkaufen, Kochen und den Gang zur Apotheke erledigte.
    Glynis war erst einundfünfzig, das alles hätte nicht sein dürfen, ihr war Unrecht widerfahren, und man schuldete ihr etwas. Wer nun genau die astronomischen Summen zahlen musste, war vermutlich nicht von Belang.
    Er nahm die Ausfahrt 96th Street in den Riverside Drive. Schwaches Winterlicht tastete sich durch die nackten Äste des Parks, flackerte und stach erneut zu wie eine ungewollte Erinnerung. Die Szene, auf die er vor zwei Tagen gestoßen war, wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen.
    Als er abends von der Arbeit nach Hause kam, brannte im ganzen Haus das Licht. Er schlenderte nach oben, aber Glynis lag nicht wie üblich in ihrem Nest aus verknäulten Decken. Er klopfte an Zachs Zimmertür und fragte seinen Sohn, ob er wisse, wo seine Mutter sei. Begleitet von Gewehrsalven, rief der Junge, keine Ahnung, aber sie müsse irgendwo im Haus sein. Shep suchte erneut im Erdgeschoss und im Obergeschoss, ehe er in den Keller ging. Sie war weder mit der Wäsche zugange, noch kramte sie in seiner Werkstatt herum. Er ging sogar mit einer Taschenlampe durch Vorgarten und Garten. Bevor er die Polizei rief, wollte er ganz gründlich sein und stieg auf den Dachboden. Da war nur Glynis’ Atelier, und seines Wissens war seit Monaten niemand mehr oben gewesen.
    Er fand sie zusammengesackt über ihrer Werkbank, und die Tischlampe tauchte die Szene in das goldene Licht eines Rembrandt: Stillleben mit Krebs und Silber . Sie hatte es geschafft, ein Sägeblatt in ihre Metallsäge zu spannen. Durch die nötige Spannung brachen die zarten Sägeblätter leicht entzwei; und dieses war zerbrochen. Es steckte in einem dünnen quadratischen Stück Sterlingsilber, das in ihrem Schraubstock lag. Eine einzige wacklige Schnittlinie zog sich etwa zweieinhalb Zentimeter ins Silber hinein. Dann war das zerbrochene Sägeblatt hängen geblieben, die Säge selbst baumelte in der Schnittlinie. Neben der schlaffen Hand seiner Frau lag ein Zettel mit undeutlichen Skizzen und wütenden Pfeilen. Er konnte nicht sagen, ob sie schlief oder bewusstlos war, und für einen Augenblick fürchtete er, dass sie – schlimmer noch als bewusstlos war. Als er ihre Stirn berührte, stellte er erleichtert fest, dass sie stattdessen hohes Fieber hatte. Bevor er sie nach unten trug, schob er sanft ihren Arm beiseite und zog das zerbrochene Sägeblatt aus dem Metall. Das quadratische Stück Metall mit dem minimalen Einschnitt würde, wie er annahm, ihre letzte Arbeit sein.
    WIE ER VORAUSGESEHEN hatte, wirkte Glynis nicht überrascht, als sie vom Krankenhausbett zu ihm hochsah. Auch Shep war nicht überrascht, seine Frau in so zerbrechlichem Zustand zu sehen; die Halssehnen stachen hervor, als hätte sie Sägeblätter verschluckt. Da er sich an ihren Verfall gewöhnt hatte, lief er in letzter Zeit Gefahr, zu glauben, dass seine Frau tatsächlich so aussah. Nur Fotos rissen ihn zurück in die Erinnerung an jene Frau, die er siebenundzwanig Jahre lang begehrt hatte, insofern konnte er nachvollziehen, weshalb sie sich jetzt jedes Fotografieren verbat. Ohne visuelle Aufzeichnungen würde dieses Bild ihrer Krankheit verblassen und rasch in den Schatten gestellt werden durch die majestätische Frau, die er geheiratet hatte, mit ihren zupackenden Händen, den langen, eleganten Beinen und dem Zauberwald dazwischen.
    Er half ihr beim Anziehen. Als er Schwierigkeiten hatte, ihre Arme in die Ärmel der kirschroten Fleecejacke von Carol zu stecken, fuhr sie ihn an: »Lass mich. Dann kann ich’s ja gleich selber machen!« Die Schwester brachte ein neues Rezept; auf dem Rückweg konnte er bei der Apotheke halten.
    »Goldman will was Neues ausprobieren«, sagte Glynis im Auto, schloss die Augen und lehnte ihren Turban gegen die Kopfstütze. »Ein Versuchsmedikament gegen Darmkrebs hat in

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