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Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition)

Titel: Dieses Leben, das wir haben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lionel Shriver
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gewesen. Sie war nach unten gestürmt (das heißt, wie ein Gummiball zwischen Wand und Treppengeländer hin und her gefedert) und hatte sich aus Rache und Empörung erst mal im großen Stil erbrochen. Nicht so sehr die Prognose hatte ihre Tochter so gekränkt als der Umstand, dass ihre Eltern sie ihr verschwiegen hatten. Sie war damals acht Jahre alt gewesen.
    Jackson verzichtete an diesem Abend auf das übliche Theater. Eigentlich hätte er damit kommen müssen, dass ständig neue Therapien gegen die Symptome entwickelt würden und dass sie keine Ahnung hätten, wie lange Flicka leben werde. Er hätte ihr ins Gedächtnis rufen müssen, dass früher die meisten Kinder mit FD in ihrem Alter längst tot gewesen wären – als sie geboren wurde, hatte sie eine Lebenserwartung von etwa fünf Jahren gehabt –, aber heute würden manche bis zu dreißig Jahre alt . Immer wieder war in den Gruppensitzungen mit dieser letzten Zahl allen Ernstes geworben worden, wobei Flicka ganz genau wusste, dass man diese Firmenlüge nur genauer untersuchen musste, um festzustellen, dass fast alle vor ihrem dreißigsten Lebensjahr gestorben waren. Flicka wollte keine Cheerleader als Eltern, und er wollte auch kein Cheerleader sein.
    »Sieh es doch einfach so«, sagte er leichthin. »Wenn deine Tage schon gezählt sind, solltest du wenigstens mitzählen können.«
    »Ha ha. Übrigens, Mama hat dir Chorizo und Kichererbsenbrei übrig gelassen. Steht auf dem Herd.«
    »Schmeckt’s denn?«, fragte er zerstreut und stocherte mit einer Gabel in der Pfanne.
    Sie schnaubte. »Woher soll ich das wissen?«
    Jackson löffelte sich ein wenig von dem roten Eintopf in ein Schälchen und schob es in die Mikrowelle. »Wie auch immer, Flicka, wir müssen dich zur Schule schicken. So ist das Gesetz.«
    »Ich kann’s gar nicht glauben, dass ausgerechnet mein Vater mit Gesetzen kommt. Ich sag nur ›Willkürherrschaft‹. Wir könnten doch Heimunterricht machen.«
    »Deine Mutter muss arbeiten, um deine Krankenversicherung zu bezahlen. Sie hätte gar nicht die Zeit dazu.«
    »Sie würde ja so gut wie nichts machen müssen. Ich könnte rumhängen und lesen – an den Tagen, wo ich ausnahmsweise mal was sehen kann und nicht die ganze Zeit Tabletten zerstoße, schlucken übe, diese öde Krankengymnastik mache oder mir künstliche Tränen in die Augen reindingse.«
    » Reindingse? Und du glaubst, du müsstest nicht zur Schule.«
    »Muss ich auch nicht. Es ist total sinnlos, mich zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft zu erziehen, wenn ich’s kaum bis ins Erwachsenenalter schaffe. Ich muss nicht lernen, welche Ereignisse zum amerikanischen Bürgerkrieg geführt haben, und das weißt du auch. Was passiert denn mit diesen ganzen Fakten? Sie werden eingeäschert. Sie lösen sich wortwörtlich in Luft auf.«
    Dass er Flicka die korrekte Verwendung von »wortwörtlich« beigebracht hatte, gab Jackson das Gefühl, wirklich etwas geleistet zu haben. Schon eigenartig, wie es ihm gelungen war, ihren unbestimmbaren letalen Status von sich abzuwenden und als Abstraktion, als Stoff für entspanntes Vater-Tochter-Geplänkel zu betrachten – als ebenso theoretisch wie seinen eigenen Tod. Insofern war ihm die eigene Sterblichkeit zum Trost geworden. Sie saßen im selben Boot. »Findest du’s denn nicht schön, mit anderen Jugendlichen Freundschaft zu schließen?«
    »Eigentlich nicht. Ich bin mehr so ihr Maskottchen. Wenn sie nett zu mir sind, haben sie ein gutes Gewissen. Sie können vor ihren Eltern angeben und auf tolerant machen, weil sie ein Mädchen mit nach Hause bringen, das läuft, als wenn es gleich von ’ner Mauer kippt. Dann sabber ich ihnen das Sofa voll, und die Eltern überlegen sich die Sache noch mal. Sie haben getan, was sie konnten. Und ich werd nie wieder eingeladen.«
    Die Mikrowelle klingelte, und er setzte sich mit seinem Essen auf den Platz gegenüber. Er hatte es zu lange erhitzt, und die Chorizo war an den Rändern hart geworden. »Deine Lehrer und Mitschüler scheinen alle große Ehrfurcht vor dir zu haben.«
    »Die Leute halten mich doch nur deswegen für so schlau, weil sie davon ausgehen, dass ich ein Idiot bin, wenn ich das erste Mal den Mund aufmache. Ich hör mich ja auch an wie ein Idiot. Wenn meine Stimme nicht so quäkig wäre und ich einen Busen hätte – auch wenn ich auf so was scheißen kann, Papa. Jetzt renn bitte nicht los und kauf mir einen Push-up oder irgendwas, weil ich nie einen Freund haben werde, selbst wenn mir

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