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Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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ein Licht weit unten im Tal zu sehen war. Es war erst halb sechs, aber er konnte keine zehn Schritt weit sehen, wenn nicht der Blitz alles in weitem Umkreis lebhaft und bizarr erleuchtete.
    Plötzlich drang ein seltsamer Klang an sein Ohr. Es war ein Lied, von leiser, heiserer Stimme, einer Mädchenstimme, gesungen, und wer immer da sang, war ganz in seiner Nähe. Ein Jahr zuvor hätte er vielleicht gelacht, oder gezittert; doch in seiner augenblicklichen rastlosen Verfassung stand er einfach da und hörte zu, und die Worte sanken in sein Bewusstsein:
    Les sanglots longs
    Des violons
    De l’automne
    Blessent mon cœur
    D’une langueur
    Monotone.
    Ein Blitz spaltete den Himmel, doch das Lied ging ungerührt weiter. Das Mädchen war offensichtlich auf dem Feld, und die Stimme schien aus der Richtung eines Heuhaufens zu kommen, der etwa sieben Meter vor ihm stand.
    Dann wurde es still, wurde still und begann erneut mit einem unheimlichen Gesang, der sich erhob und schwebte und fiel und sich mit dem Regen vermischte:
    [324] Tout suffocant
    Et blême quand
    Sonne l’heure
    Je me souviens
    Des jours anciens
    Et je pleure…
    »Wen zum Teufel gibt’s im Ramilly County«, murmelte Amory laut vor sich hin, »der Verlaine mit einer improvisierten Melodie vor einem triefenden Heuhaufen vorträgt?«
    »Es gibt jemanden!«, rief die Stimme furchtlos. »Wer bist du? Manfred, der heilige Christophorus oder Königin Viktoria?«
    »Ich bin Don Juan!«, schrie Amory impulsiv über das Getöse von Regen und Wind hinweg.
    Ein entzücktes Kreischen kam aus dem Heuhaufen.
    »Ich weiß, wer du bist – du bist der blonde Junge, der Ulalume mag – ich erkenne deine Stimme.«
    »Wie komm ich da hinauf?«, rief er vom Fuß des Heuhaufens, den er mittlerweile, triefend nass, erreicht hatte. Ein Kopf erschien am oberen Rand – es war so dunkel, dass Amory nur einen feuchten Haarschopf erkennen konnte und zwei Augen, die wie Katzenaugen funkelten.
    »Nimm Anlauf!«, kam die Stimme. »Dann spring, und ich zieh dich an der Hand herauf – nein, nicht da – auf der anderen Seite.«
    Er folgte den Anweisungen, und als er seitlich hinaufkrabbelte, knietief im Heu, streckte sich eine kleine weiße Hand aus, ergriff die seine und half ihm hinauf.
    [325] »Da bist du also, Juan«, rief die mit dem feuchten Haar. »Hast du etwas dagegen, wenn ich den Don weglasse?«
    »Du hast den gleichen Daumen wie ich!«, rief er.
    »Und du hältst meine Hand, was sehr gefährlich ist, bevor du nicht mein Gesicht gesehen hast.« Er ließ sie schnell wieder los.
    Wie als Antwort auf seine Gebete kam ein Blitz, und er musterte sie aufmerksam, wie sie neben ihm auf dem durchnässten Heuhaufen, drei Meter über dem Boden, stand. Doch ihr Gesicht war verdeckt, und er sah nichts als eine schlanke Figur, dunkles, feuchtes, kurzgeschnittenes Haar und die kleinen weißen Hände mit den Daumen, die sich genau wie seine zurückbogen.
    »Setz dich doch«, lud sie ihn höflich ein, als die Dunkelheit sie wieder umhüllte. »Wenn du dich hier mir gegenübersetzt in dieser Höhle, kannst du die Hälfte des Regenmantels abhaben, den ich als Regenzelt benutzt habe, bevor du mich so unhöflich unterbrochen hast.«
    »Ich wurde darum gebeten«, sagte Amory vergnügt. »Du hast mich darum gebeten – das weißt du sehr wohl.«
    »Don Juan schafft es eben immer«, sagte sie lachend. »Aber ich werde dich nicht mehr so nennen, weil du rötliches Haar hast. Stattdessen kannst du Ulalume zitieren, und ich bin Psyche, deine Seele.«
    Amory wurde rot, zum Glück unbemerkt hinter der Wand aus Regen und Wind. Sie saßen einander gegenüber in einer winzigen Höhle im Heu, den Regenmantel, so gut es ging, über sich gebreitet, und der Regen besorgte den Rest. Amory versuchte verzweifelt, Psyche zu Gesicht zu bekommen, aber kein Blitz wollte aufleuchten, und er [326] wartete voller Ungeduld. Lieber Gott! Angenommen, sie war nicht schön – angenommen, sie war eine Kleinigkeitskrämerin von vierzig – Himmel! Angenommen, nur einmal angenommen, sie war verrückt. Doch dieses Letzte, wusste er, war gemein. Hier schickte ihm die Vorsehung ein Mädchen zu seiner Unterhaltung, wie sie Benvenuto Cellini Männer zum Ermorden schickte, und er überlegte sogleich, ob sie verrückt war, nur weil sie genau seiner augenblicklichen Stimmung entsprach.
    »Bin ich nicht«, sagte sie.
    »Was bist du nicht?«
    »Nicht verrückt. Ich habe dich auch nicht für verrückt gehalten, als ich dich zum ersten Mal

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