Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
Vom Netzwerk:
gehabt und alle Geräusche nur noch als ›tomm – tomm – tomm‹ gehört, bis du geschworen hättest, dass die Ewigkeit aus soundso vielen ›Tomms‹ besteht? So fühl ich mich jetzt – unsere alten Gäule machen ›tomm – tomm‹… Ich schätze, das ist das Einzige, was uns von Pferden und Uhren unterscheidet. Menschen können nicht ›tomm – tomm‹ machen, ohne verrückt zu werden.«
    Der Wind frischte auf, und Eleanor zog zitternd ihr Cape fester um sich.
    »Ist dir sehr kalt?«, fragte Amory.
    »Nein, ich denke über mich nach – über mein altes schwarzes Selbst da drinnen, das wirkliche, mit der tiefen Aufrichtigkeit, die mich davor bewahrt, durch und durch böse zu sein, indem sie mir meine eigenen Sünden vor Augen führt.«
    Sie ritten nahe an der Klippe entlang, und Amory spähte hinunter. In dreißig Metern Tiefe, wo der Abhang den Grund erreichte, war ein schwarzer Strom als scharfe Linie erkennbar, unterbrochen von kleinen Glitzerpunkten im schnell dahinschießenden Wasser.
    [342] »Diese durch und durch faule alte Welt!«, brach es plötzlich aus Eleanor heraus. »Und das Erbärmlichste darin bin ich – warum bin ich nur ein Mädchen? Warum bin ich nicht ein dummer…? Schau dich an, du bist dümmer als ich, nicht viel, aber etwas, und du kannst dich irgendwo umtun und, wenn’s dir langweilig wird, dich anderswo umtun, und du kannst dich mit Mädchen abgeben, ohne dich hoffnungslos in Sentimentalitäten zu verstricken… und du kannst tun, was du willst, und das mit gutem Recht – und hier bin ich, mit genug Verstand, alles zu tun, und dennoch an das sinkende Schiff einer zukünftigen Ehe gefesselt. Wenn ich hundert Jahre später geboren wäre, gut und schön, aber was mich jetzt erwartet – ich muss heiraten, das versteht sich von selbst. Wen? Für die meisten Männer bin ich zu klug, und dennoch muss ich mich auf ihr Niveau begeben und so tun, als brauchte mein Verstand ihre gönnerhafte Unterstützung, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Mit jedem Jahr, das ich nicht heirate, sinken meine Chancen auf einen erstklassigen Mann. Im besten Fall kann ich aus dem Angebot von ein oder zwei Städten auswählen, und selbstverständlich muss ich einen Smoking heiraten. Hör zu« – sie beugte sich wieder zu ihm –, »ich mag kluge und gutaussehende Männer, und niemandem liegt mehr an persönlicher Ausstrahlung als mir, das versteht sich. Höchstens einer von fünfzig hat auch nur einen Schimmer davon, was Sex wirklich ist. Ich bin besessen von Freud und alldem, aber es ist doch etwas faul daran, dass jedes bisschen wahrer Liebe auf der Welt aus neunundneunzig Prozent Leidenschaft und einer kleinen Prise Eifersucht besteht.« Sie hörte so plötzlich auf, wie sie begonnen hatte.
    [343] »Natürlich, du hast ganz recht«, pflichtete Amory ihr bei. »Es ist eine ziemlich unschöne, übermächtige Gewalt, ein Teil des Mechanismus, der alles bewegt. Es ist wie ein Schauspieler, der dich seine Technik merken lässt! Warte eine Minute, bis ich das durchdacht habe…«
    Er schwieg und suchte nach einer Metapher. Sie hatten sich von der Klippe abgewandt und ritten die Straße etwa zwanzig Meter links davon entlang.
    »Schau, jeder muss ein Mäntelchen haben, mit dem er es zudecken kann. Die mittelmäßigen Denker, die Platos zweiter Klasse, nehmen die Reste romantischer Ritterlichkeit, verwässert mit viktorianischer Sentimentalität – und wir, die wir uns als Intellektuelle betrachten, decken es zu, indem wir so tun, als sei das eine ganz andere Seite von uns, die nichts mit unserem glänzenden Verstand zu tun hat; wir tun so, als bewahre uns die Tatsache, dass wir uns seines Vorhandenseins bewusst sind, bereits davor, ihm zum Opfer zu fallen. Doch in Wahrheit steckt der Sex mitten in unseren reinsten Abstraktionen, so sehr, dass er die Sicht verdunkelt… Jetzt kann ich dich küssen, und ich will es auch…« Er beugte sich im Sattel zu ihr, doch sie entzog sich ihm.
    »Ich kann nicht – ich kann dich jetzt nicht küssen – ich bin da empfindsamer.«
    »Dümmer bist du, sonst nichts«, erklärte er ziemlich ungeduldig. »Der Verstand schützt ebenso wenig vor dem Sex wie die Konvention…«
    »Was denn dann?«, schoss sie zurück. »Die katholische Kirche oder die Lehren des Konfuzius?«
    Amory sah einigermaßen verblüfft auf.
    »Das ist dein Allheilmittel, nicht wahr?«, ereiferte sie sich. [344] »Ach, du bist auch nur so ein alter Heuchler. Tausend finster blickende Priester halten die

Weitere Kostenlose Bücher