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Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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drinnen die Platzanweiser am Werk waren.
    [368] New York war offenbar nicht im Begriff zu erwachen, sondern sich noch einmal im Bett umzudrehen. Blässliche Menschen, die ihre Mantelkragen zusammenhielten, hasteten vorbei; ein großer Schwarm müder, geschwätziger Mädels aus einem Kaufhaus schob sich, in kreischendes Gelächter ausbrechend, die Straße entlang, immer drei unter einem Schirm; ein Zug Polizisten marschierte vorbei, durch irgendein Wunder bereits mit Ölmänteln gewappnet.
    Der Regen erweckte in Amory ein Gefühl der Isolation, und die zahlreichen unerfreulichen Aspekte des Großstadtlebens ohne Geld zogen vor seinem inneren Auge als bedrohliche Prozession vorbei. Da war das widerwärtige, stinkende Gedränge in der U-Bahn – deren seltsame Insassen einem aufdringlich nahe kamen, dreinblickten wie öde Langweiler, die einen am Arm festhielten, um noch eine Geschichte loszuwerden; die ärgerliche Belästigung, wenn sich wieder jemand an einen anlehnte; ein Mann, der nicht für eine Frau aufstehen wollte und sie dafür hasste, während die Frau ihn dafür hasste, dass er’s nicht tat; im schlimmsten Fall eine übelriechende Mischung von schlechtem Atem, muffiger Kleidung auf menschlichen Leibern und Essensgerüchen – im besten Fall einfach Leute – verschwitzt oder frierend, müde, gereizt.
    Er stellte sich die Räume vor, in denen diese Leute lebten – mit großgemusterten, blasenwerfenden Tapeten, ewig wiederkehrenden Sonnenblumen auf grünem und gelbem Hintergrund, mit Blechbadewannen und düsteren Korridoren und unsäglichen Hinterhöfen ohne jedes Grün; wo selbst Liebe nur als Verführung vorkam – ein schmutziger Mord gleich um die Ecke, uneheliche Mutterschaft in der [369] Wohnung oben. Und im Winter herrschte aus Sparsamkeitsgründen stets stickige Luft, und die langen Sommer waren verschwitzte Alpträume inmitten feuchtklebriger, einengender Wände… schmuddelige Restaurants, in denen gleichgültige, müde Menschen sich mit ihren benutzten Kaffeelöffeln Zucker nahmen und harte braune Ablagerungen in der Schale zurückließen.
    Es war nicht so schlimm, wo es nur Männer oder nur Frauen gab; erst wenn sie so grässlich zusammengepfercht wurden, erschien alles so ekelhaft. Es war eine Art Scham bei den Frauen, dass Männer sie arm und erschöpft sehen konnten – und eine Art Ekel, den Männer vor Frauen empfanden, die erschöpft und arm waren. Es war schmutziger als jedes Schlachtfeld, das er je gesehen hatte, es war härter, dies ansehen zu müssen, als jede tatsächliche Härte, die aus Dreck, Schweiß und Gefahr bestand – es war eine Atmosphäre, in der Geburt, Ehe und Tod ekelerregende, verstohlene Dinge waren.
    Er musste daran denken, wie eines Tages ein Botenjunge mit einem großen Kranz aus frischen Blumen in die U-Bahn gestiegen war – wie ihr Geruch plötzlich die Luft gereinigt hatte und jedem im Wagen für einen Moment etwas Glanz verlieh.
    Ich verabscheue arme Leute, dachte Amory plötzlich. Ich hasse sie für ihr Armsein. Armut mag einmal etwas Schönes gewesen sein, aber jetzt stinkt sie zum Himmel. Sie ist das Hässlichste auf der ganzen Welt. Es ist wesentlich sauberer, korrupt und reich zu sein als unschuldig und arm. Eine Gestalt erschien ihm wieder vor Augen, deren Symbolkraft ihn einmal beeindruckt hatte – ein [370] gutgekleideter junger Mann, der von einem Clubfenster auf die Fifth Avenue hinunterschaute und mit dem Ausdruck äußersten Ekels etwas zu seinem Begleiter sagte. Vermutlich, dachte Amory, sagte er etwas wie: »Mein Gott! Sind diese Leute nicht grauenvoll!«
    Nie zuvor in seinem Leben hatte Amory sich über arme Leute Gedanken gemacht. Er dachte zynisch, wie vollständig ihm doch jegliches menschliche Mitgefühl fehlte. O. Henry hatte in diesen Leuten Romantik, Pathos, Liebe und Hass gefunden – Amory sah nur Rohheit, Ungepflegtheit und Dummheit. Er machte sich deswegen keinen Vorwurf– nie wieder würde er sich für Gefühle tadeln, die natürlich und aufrichtig waren. Er nahm all seine Reaktionen als Teil seiner selbst hin, unabänderlich, ohne moralische Wertung. Dieses Problem der Armut, auf anderer Ebene, in anderem Maßstab, verbunden mit einer erhabeneren, würdevolleren Haltung, könnte eines Tages sogar sein eigenes Problem werden; im Augenblick erregte es in ihm nur tiefen Ekel.
    Hakenschlagend vor der Bedrohung durch blinde schwarze Schirme spazierte er zur Fifth Avenue hinüber, blieb vor dem Delmonico stehen und winkte einem Autobus.

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