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Diesseits vom Paradies

Diesseits vom Paradies

Titel: Diesseits vom Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Den Mantel fest zugeknöpft, stieg er in den Oberstock hinauf und fuhr mutterseelenallein durch den dünnen, anhaltenden Regen, und die kühle Feuchtigkeit, die sich unaufhörlich auf seinen Wangen niederschlug, hielt ihn munter. Irgendwo in seinem Hirn begann eine Unterhaltung oder beanspruchte vielmehr seine Aufmerksamkeit. Sie bestand nicht aus zwei Stimmen, sondern aus einer, die Fragender und Antwortender zugleich war:
    [371] FRAGE Nun – wie ist die Lage?
    ANTWORT Dass ich ungefähr vierundzwanzig Dollar mein Eigen nenne.
    F. Du hast das Grundstück in Lake Geneva.
    A. Aber ich möchte es behalten.
    F. Kannst du dir deinen Lebensunterhalt verdienen?
    A. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich nicht dazu fähig wäre. In Büchern verdienen die Leute auch Geld, und ich habe erkannt, dass ich alles kann, was Leute in Büchern können. Tatsächlich ist das so ziemlich das Einzige, was ich kann.
    F. Drück dich genauer aus.
    A. Ich weiß nicht, was ich tun werde – und bin auch nicht besonders neugierig darauf. Morgen werde ich New York für immer verlassen. Es ist eine üble Stadt, wenn man nicht zur Spitze gehört.
    F. Möchtest du viel Geld haben?
    A. Nein. Ich habe nur Angst davor, arm zu sein.
    F. Große Angst?
    A. Einfach nur unbestimmte Angst.
    F. Wohin treibst du?
    A. Frag doch mich nicht!
    F. Ist es dir egal?
    A. Ziemlich. Ich will nicht aus moralischen Gründen Selbstmord begehen.
    F. Gibt es nichts mehr, was dich interessiert?
    A. Nichts. Ich habe keine Tugend mehr zu verlieren. So wie ein abkühlender Topf Hitze abgibt, haben wir in unserer Jugend- und Reifezeit Tugendkalorien abgegeben. Das ist es, was als Unschuld bezeichnet wird.
    [372] F. Eine interessante Idee.
    A. Deswegen ist ein »anständiger Mann, der auf Abwege gerät«, für die Leute so anziehend. Sie stehen um ihn herum und wärmen sich buchstäblich an den Tugendkalorien, die er abgibt. Sarah macht eine anspruchslose Bemerkung, und die Gesichter verziehen sich vor Entzücken – »Ach, wie unschuldig das arme Kind doch ist!« Sie wärmen sich an ihrer Tugend. Doch Sarah sieht das einfältige Grinsen und macht nie wieder eine solche Bemerkung. Ihr ist danach nur ein bisschen kälter.
    F. Alle deine Kalorien verbraucht?
    A. Alle. Ich beginne, mich an der Tugend anderer zu wärmen.
    F. Bist du bestechlich?
    A. Ich glaube, ja. Ich bin nicht sicher. Was Gut und Böse angeht, bin ich mir überhaupt nicht mehr sicher.
    F. Ist das an sich ein schlechtes Zeichen?
    A. Nicht unbedingt.
    F. Was wäre der Prüfstein der Bestechlichkeit?
    A. Wenn ich wirklich unaufrichtig werde – mich selbst einen »gar nicht so schlechten Kerl« nenne und denke, ich trauerte meiner verlorenen Jugend nach, wenn ich in Wahrheit mit Neid daran denke, welches Vergnügen es bereitete, sie zu verlieren. Jugend ist wie ein großer Teller voller Süßigkeiten. Sentimentale Menschen denken, sie wollten in den reinen, einfachen Zustand zurückkehren, in dem sie waren, bevor sie die Süßigkeiten gegessen haben. Aber das stimmt nicht. Sie wollen bloß den Spaß haben, das Ganze noch einmal aufzuessen. Die Matrone will nicht noch einmal ihre Backfischzeit erleben – sie will ihre Flitterwochen [373] wiederholen. Ich will nicht meine Unschuld wiederherstellen. Ich will das Vergnügen, sie noch einmal zu verlieren.
    F. Wohin treibst du?
    Dieser Dialog verschmolz auf bizarre Weise mit dem, was ihm meist durch den Kopf ging – eine groteske Mischung von Sehnsüchten, Ärgernissen, äußeren Eindrücken und körperlichen Reaktionen.
    Einhundertsiebenundzwanzigste Straße – oder Einhundertsiebenunddreißigste Straße… Zwei und Drei sehen sich ähnlich – nein, nicht sehr. Der Sitz ist feucht… nimmt die Kleidung Nässe vom Sitz auf oder der Sitz Trockenheit von der Kleidung?… Auf Nassem zu sitzen gibt Blinddarmentzündung, hatte Froggy Parkers Mutter immer gesagt. Na, er hat sie bekommen – ich werd die Dampfschiffgesellschaft verklagen, sagte Beatrice, und mein Onkel ist zu einem Viertel beteiligt – ob Beatrice in den Himmel gekommen ist?… vermutlich nicht. In ihm verkörperte sich Beatrice’ Unsterblichkeit, außerdem die Liebesaffären zahlreicher längst Verstorbener, die sicherlich nie an ihn gedacht hatten… wenn es nicht Blinddarmentzündung war, dann vielleicht Grippe. Was? Einhundertundzwanzigste Straße? Dann muss die letzte die Einhundertundzwölfte gewesen sein. Eins Eins Zwei statt Eins Zwei Sieben. Rosalind nicht wie Eleanor, Eleanor wie Beatrice, nur

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