Diesseits vom Paradies
nicht so zickig.«
Ihre Lippen kräuselten sich leicht.
»Ich kann sein, wie’s mir passt.«
Amory beherrschte sich nur mühsam. Ihm ging auf, dass er kein Quentchen wahrer Zuneigung für Isabelle empfand; es war nur ihre Kälte, die ihn reizte. Er wollte sie küssen, noch und noch küssen, denn dann wusste er, dass er am nächsten Morgen unbeschwert abreisen konnte. Wenn er sie jedoch nicht küsste, würde es ihn ärgern… Es würde nicht zu dem Bild des strahlenden Eroberers passen, das er von sich hatte. Es war einfach unwürdig, betteln zu müssen und einer so tapferen Kriegerin wie Isabelle zu erliegen.
Vielleicht ahnte sie das. Jedenfalls sah Amory die Nacht verstreichen, die die Erfüllung aller romantischen Träume hätte sein sollen – mit großen Nachtfaltern über ihren Köpfen und süßen Düften aus den Vorgärten, doch ohne jene halberstickten Worte, ohne jene leisen Seufzer…
Später saßen sie in der Küche bei Ginger Ale und Schokoladenkuchen, und Amory verkündete eine Entscheidung.
»Ich werde morgen sehr früh abfahren.«
»Warum?«
»Warum nicht?«, konterte er.
»Dazu besteht kein Grund.«
[139] »Ich fahre trotzdem.«
»Bitte, wenn du darauf bestehst, dich lächerlich zu machen…«
»Jetzt stell es bloß nicht so hin«, protestierte er.
»…nur weil ich mich nicht von dir küssen lassen will. Glaubst du vielleicht –«
»Also Isabelle«, unterbrach er sie. »Du weißt genau, dass es nicht das ist – aber selbst wenn. Wir sind jetzt so weit, dass wir uns entweder küssen oder – oder gar nichts. Es ist ja nicht so, dass du dich aus moralischen Gründen weigerst.«
Sie zögerte.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich von dir halten soll«, sagte sie etwas widerwillig in einem schwachen Versuch, sich versöhnlich zu zeigen. »Du bist wirklich seltsam.«
»Wieso?«
»Na ja, ich dachte, dass du dir eine Menge zutraust und so weiter; neulich hast du mir noch erzählt, du könntest alles tun oder alles kriegen, was du willst.«
Amory errötete. Er hatte ihr allerdings alles Mögliche erzählt.
»Ja.«
»Heute Abend jedenfalls warst du nicht so besonders überzeugt von dir. Vielleicht bist du einfach nur ziemlich eingebildet.«
»Nein, bin ich nicht«, sagte er zögernd. »In Princeton–«
»Ach, du und dein Princeton! Man sollte meinen, das wäre wunder was, so wie du redest. Vielleicht kannst du wirklich besser schreiben als jeder andere bei deinem tollen Princetonian; vielleicht halten dich die Freshmen ja wirklich für was Besonderes –«
[140] »Das verstehst du nicht –«
»Doch«, unterbrach sie ihn. »Ich verstehe es sehr wohl, weil du andauernd über dich selbst redest, und bisher hat’s mir gefallen, aber jetzt nicht mehr.«
»Hab ich das heute Abend?«
»Das ist es ja«, trumpfte Isabelle auf. »Heute Abend warst du völlig durcheinander. Du hast bloß dagesessen und mir in die Augen geschaut. Außerdem muss ich immer erst nachdenken, bevor ich dir etwas sage – du nimmst alles so furchtbar genau.«
»Ich bring dich also zum Nachdenken?«, wiederholte Amory mit einem Anflug von Eitelkeit.
»Du machst mich nervös«, meinte sie mit Nachdruck, »und wenn du jedes kleine bisschen Gefühl und Instinkt immer gleich analysierst, dann ist es bei mir einfach weg.«
»Ich weiß.« Amory gab ihr recht und schüttelte hilflos den Kopf.
»Gehen wir.« Sie stand auf.
Er erhob sich geistesabwesend, und sie gingen zur Treppe.
»Welchen Zug kann ich nehmen?«
»Es gibt einen um 9.11 Uhr, wenn du fahren musst.«
»Ja, ich muss wirklich. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Sie waren die Treppe hinaufgestiegen, und auf dem Weg in sein Zimmer glaubte Amory einen leisen Hauch von Unzufriedenheit auf Isabelles Gesicht entdeckt zu haben. Er lag im Dunkeln noch lange wach und fragte sich, wie viel es ihm eigentlich ausmachte – ob er sich nur aus verletzter Eitelkeit plötzlich so elend fühlte oder ob er am Ende etwa wirklich unfähig war zu lieben.
[141] Er erwachte mit höchst angenehmen Gefühlen. Der Morgenwind bauschte die Chintzvorhänge an den Fenstern, und es verwirrte ihn ein wenig, dass er nicht in seinem Zimmer in Princeton war, mit dem Bild der Football-Schulmannschaft über dem Schreibtisch und der Fahne des Triangle-Clubs an der gegenüberliegenden Wand. Dann schlug die Standuhr draußen in der Halle achtmal, und die Erinnerung an die vergangene Nacht kehrte zurück. In Windeseile war er aus dem Bett und angezogen; er musste aus dem Haus, bevor er Isabelle
Weitere Kostenlose Bücher