Diesseits vom Paradies
ROSALIND tritt vor den Spiegel und betrachtet sich wohlgefällig. Sie küsst ihre Hand und berührt damit ihren Mund im Spiegelbild. Dann dreht sie [262] die Lichter aus und verlässt den Raum. Einen Augenblick herrscht Stille. Ein paar Akkorde vom Klavier, das leise Getrommel eines schwach vernehmbaren Schlagzeugs, das Rascheln neuer Seide, all dies vermischt sich auf der Treppe draußen und kommt durch die halbgeöffnete Tür hereingeströmt. Dick vermummte Gestalten gehen durch die erleuchtete Halle. Das Gelächter unten verdoppelt und verdreifacht sich. Dann kommt jemand herein, schließt die Tür und schaltet das Licht an. Es ist CECELIA : Sie geht zur Chiffonière, schaut in die Schubladen, zögert – dann zum Schreibtisch, aus dem sie die Dose mit den Zigaretten zieht und sich eine davon nimmt. Sie zündet sie an und geht, Rauchwölkchen paffend, zum Spiegel.
CECELIA in höchst altklugen Tönen O ja, das Debüt ist ja solch eine Farce heutzutage. Man flirtet schon so viel herum, bevor man siebzehn ist, dass es einfach eine Enttäuschung sein muss. Schüttelt einem imaginären mittelalterlichen Edelmann die Hand. Ja, Euer Gnaden – ich glaube, meine Schwester sprach schon von Ihnen. Nehmen Sie doch einen Zug – sie sind sehr gut, es sind – es sind Coronas. Sie rauchen nicht? Wie schade! Ich vermute, der König erlaubt es nicht. Ja, ich möchte tanzen.
Und sie tanzt im Zimmer herum, zu einer von unten zu hörenden Melodie, die Arme um einen imaginären Partner gelegt, in der ausgestreckten Hand die Zigarette schwenkend.
[263] Einige Stunden später
Die Ecke eines kleinen Kabinetts unten, die von einer sehr gemütlichen Ledercouch ausgefüllt wird. Darüber hängt, zwischen zwei kleinen Wandleuchten, ein Gemälde eines sehr alten, sehr würdigen Herrn, etwa von 1860. Von draußen hört man einen Foxtrott.
ROSALIND sitzt auf der Couch, ihr zur Linken HOWARD GILLESPIE, ein fader Jüngling von etwa vierundzwanzig Jahren. Er ist offensichtlich sehr unglücklich und sie ziemlich gelangweilt.
GILLESPIE schwach Was meinst du damit, ich hätte mich verändert? Ich empfinde noch immer dasselbe für dich.
ROSALIND Aber du wirkst nicht mehr wie derselbe auf mich.
GILLESPIE Vor drei Wochen hast du gesagt, du magst mich, weil ich so blasiert und gleichgültig bin – das bin ich doch noch immer.
ROSALIND Ja, aber nicht bei mir. Du hast mir gefallen, weil du braune Augen und dünne Beine hattest.
GILLESPIE hilflos Sie sind immer noch dünn und braun. Du spielst aus dem Stegreif den Vampir, das ist alles.
ROSALIND Das Einzige, was ich aus dem Stegreif spielen kann, ist Klavier. Was die Männer aus der Fassung bringt, ist, dass ich völlig natürlich bin. Ich dachte immer, du seist nie eifersüchtig. Jetzt verfolgst du mich überallhin mit deinen Blicken.
GILLESPIE Ich liebe dich eben.
ROSALIND kalt Ich weiß.
GILLESPIE Und du hast mich schon seit zwei Wochen [264] nicht mehr geküsst. Ich dachte immer, wenn ein Mädchen sich küssen lässt, dann ist sie – dann ist sie erobert.
ROSALIND Die Zeiten sind vorbei. Ich muss jedes Mal, wenn wir uns treffen, von neuem erobert werden.
GILLESPIE Meinst du das ernst?
ROSALIND So ernst wie eh und je. Früher gab es zwei Arten von Küssen. Erstens, wenn Mädchen geküsst und dann verlassen wurden; zweitens, wenn sie verlobt waren. Jetzt gibt es noch eine dritte Art, dabei wird der Mann geküsst und dann verlassen. Wenn Mr. Jones in den neunziger Jahren damit prahlte, ein Mädchen geküsst zu haben, dann wusste jeder, dass er mit ihr fertig war. Wenn Mr. Jones 1919 mit demselben prahlt, dann weiß jeder, dass er’s tut, weil sie sich nicht mehr von ihm küssen lässt. Wenn sie’s richtig anfängt, kann heutzutage jedes Mädchen einen Mann aus dem Feld schlagen.
GILLESPIE Warum gibst du dich dann überhaupt mit Männern ab?
ROSALIND beugt sich vertraulich zu ihm hinüber. Für diesen ersten Moment, wenn er entflammt ist. Es gibt einen Moment – kurz vor dem ersten Kuss, ein hingeflüstertes Wort – etwas, wofür es sich lohnt.
GILLESPIE Und dann?
ROSALIND Dann lässt du ihn von sich erzählen. Und alsbald denkt er an nichts anderes mehr, als mit dir allein zu sein – er ist eingeschnappt, er will nicht kämpfen, er will nicht spielen – Sieg!
Auftritt DAWSON RYDER, sechsundzwanzig, gutaussehend, wohlhabend, loyal den Seinen gegenüber, ein Langweiler vielleicht, aber solide und mit gesicherter Zukunft.
[265] RYDER Ich glaube, das ist mein Tanz,
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