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Diktator

Diktator

Titel: Diktator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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Er war wie ein mythisches Wesen, dachte Ernst, ein Ungeheuer aus dem Wald, der Wiege aller menschlichen Ängste. Auf seinem Geschützturm stand etwas geschrieben, in weißer Farbe auf dem Tarngrün: DENKT AN PETER’S WELL.
    »Feuer!« Heinz schlug Ernst ins Genick. »Feuere das verdammte Ding ab!«
    Ernst hob seine Panzerfaust, zielte und schoss. Das Brüllen der raketengetriebenen Granate war laut, das Rohr heiß, und er konnte nicht sehen, wie viel Schaden er angerichtet hatte.

VIII
    In Hastings wurde George vom Geschützlärm geweckt. Es klang wie Donner, der von Norden kam, tief aus dem Landesinneren.
    Aber sein erster Gedanke war, dass sie kein Brot mehr hatten. Im Licht einer Kugelschreiberlampe blickte er auf seinen Wecker. Noch nicht einmal halb sieben. Früh, aber er wusste, dass der Bäcker um diese Zeit schon geöffnet haben musste. Mit etwas Glück konnte er dort sein, bevor sich eine Schlange bildete. Er schaltete seine Nachttischlampe ein; wieder kein Strom, aber es war schon hell genug, dass er etwas sehen konnte. Er glitt aus dem Bett – er hatte sich angewöhnt, das zu tun, ohne Julia zu wecken – und zog Hemd und Hose an.
    Sie drehte sich um, weg von ihm, und grummelte leise im Schlaf. Im sanften gelben Licht war die Haut ihres langen Rückens glatt und makellos, und mit den über sie drapierten Laken sah sie aus wie ein posierendes Aktmodell. Sie war wirklich sehr schön, wenn sie schlief.
    Leise verließ er das Zimmer, ging nach unten, auf die Toilette, und schlüpfte mit bloßen Füßen in seine Schuhe. In der Diele hielt er inne, warf einen Blick in
den Spiegel und kratzte sich die grauen Stoppeln auf seinen Wangen. Dann schloss er die Haustür auf, öffnete sie, trat hinaus und prüfte den Morgen.
    Er stand im Schatten der schmalen, steil ansteigenden Straße, aber der Himmel über ihm war tiefblau, mit Wolkenfetzen überzogen. Hier draußen war der Geschützdonner lauter; er hallte von den leeren Fassaden der mit Brettern vernagelten Häuser wider. Es war kühl und taufeucht, aber er würde die paar Minuten ohne Mantel schon überleben. Er zog die Tür hinter sich zu.
    George ging die Straße hinunter und sog die frische Luft tief in die Lungen. Das Gras schob sich zwischen den Pflastersteinen hindurch; es zu entfernen war eine jener Aufgaben, die heutzutage niemand mehr wahrnahm. Die Straße war still, aber in der Ferne hörte er laute Verkehrsgeräusche: schwere Kaliber, ein kehliges Brüllen, wahrscheinlich Militärfahrzeuge.
    Eine Tür ging auf, als er vorbeikam, und eine Frau trat heraus – Mrs. Thompson, eine Frau in den Fünfzigern, deren Mann im Ersten Weltkrieg gefallen war. Er kannte sie flüchtig. Unbeholfen schob sie einen Kinderwagen voller Sachen, die mit einer Decke verhüllt waren. Sie schloss ihre Haustür ab und machte sich, leise vor sich hinmurmelnd, auf den Weg die Straße hinauf, weg von der Küste. Seit Tagen stöhnten die Besatzungsbehörden schon über Flüchtlinge, die den Militärfahrzeugen auf sämtlichen aus der Stadt führenden Straßen in die Quere kamen. Aber die Deutschen schienen in diesen letzten Tagen nicht mehr den Willen zu haben, etwas dagegen zu unternehmen, und George
würde sicherlich nicht versuchen, sich der Flut mit seinen wenigen Beamten entgegenzustemmen. Er machte sich jedoch ein wenig Sorgen um Mrs. Thompson. Es wäre besser für sie gewesen, wenn sie die heimlichen Anweisungen der britischen Polizisten befolgt hätte und in ihrem Haus geblieben wäre, bis alles vorbei war.
    Als er die Bäckerei erreichte, kam gerade ein SS-Offizier mit einem Laib Brot in der Hand herausmarschiert. Der Bäcker selbst lief ihm nach. Er war ein kleiner Glatzkopf von sechzig Jahren mit den schlaffen Zügen eines Mannes, der einmal Übergewicht gehabt hatte. »He!«, rief er dem Deutschen entrüstet nach. »Sie haben nicht bezahlt!«
    Der SS-Mann zuckte die Achseln. »Bis Morgen ist der Tommy hier. Der zahlt.« Und er schlenderte davon, ohne sich umzuschauen.
    »So eine Frechheit«, sagte der Bäcker zu George. »Das Übliche, Sergeant?«
    »Ja, Albert, wenn’s geht.«
    Als der Bäcker in seinen Laden zurückkehrte, marschierte ein Trupp Soldaten über die Kreuzung weiter vorn – zumindest sahen sie wie Soldaten aus, Burschen in schlecht sitzenden Wehrmachtsuniformen, angeführt von einem SS-Offizier. Aber sie waren klein und mager, mit zu großen Helmen auf dem Kopf. Es waren Mitglieder der Hitlerjugend, englische Jungs, die man dazu verleitet hatte, die

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