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Diktator

Diktator

Titel: Diktator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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Männer hatten diese Stunden des Wartens an ihren Einschiffungspunkten gefürchtet, denn naheliegenderweise waren sie dort – wie die wartende Flotte insgesamt – Luftangriffen schutzlos ausgesetzt. Aber die RAF hatte sich nicht blicken lassen. Vielleicht hatte Göring endlich sein Versprechen eingelöst und die britischen Flugzeuge für diesen Tag zurückgeschlagen.
    Es war neblig und kalt. Dies war der S-Tag minus eins, der Vortag des Seelöwen-Tages. Ernst blickte aufs Meer hinaus. Und vor ihm entfaltete sich ein verblüffendes Schauspiel.

    Draußen vor dem Hafen wimmelte das Meer von Schiffen. Im tieferen Wasser glitten schwere Dampfschiffe dahin, Schatten auf dem Meer, beladen mit Vorräten und den Fahrzeugen der motorisierten Einheiten. In den küstennäheren Gewässern fuhren kleinere Schiffe umher, Motorboote, Fischkutter und sogar einige wenige Ruderboote. Es gab auch ein paar exotische Wasserfahrzeuge, zum Beispiel die neuartigen Sturmboote wie jenes, mit dem Josef gespielt hatte, und »Herbert-Fähren«, mit einem Motor ausgestattete Pontonbrückenelemente, die stabil und massiv genug waren, um eine komplette Flakeinheit zu transportieren. All diese Spezialfahrzeuge waren erst in diesem Invasionssommer unter Hochdruck entworfen und gebaut worden.
    Den bemerkenswertesten Anblick boten jedoch die Lastkähne selbst. Viele von ihnen waren bereits aus dem Hafen geschleppt worden, und nun formierten sie sich zu gewaltigen Kolonnen, die kilometerlange Konvois bildeten. Schwarze Rauchfahnen stiegen von den Dampfschiffen empor, die sie zogen. Für diese ungeheure Choreografie aus Holz, Eisen und militärischer Gewalt hatte es keinen Testlauf gegeben, denn das war unmöglich gewesen.
    Und dann brummte eine weitere Welle von Flugzeugen über sie hinweg, hinaus aufs Meer: Messerschmitts, Junkers und Stuka-Bomber, die entschlossen gen England flogen, um die RAF und die Royal Navy zurückzuschlagen und ihre Landeplätze zu zerstören. Ihnen folgte eine Welle von Ju-52-Transportern mit
Fallschirmjägern, deren Aufgabe es war, die Invasion aus der Luft zu starten.
    Es war ein prächtiges Schauspiel, sagte er sich: ein Zusammenwirken von Streitkräften zu Lande, zur See und in der Luft, die größte Invasion über dieses Meer seit den Römern. Eines Tages würde er ein Buch darüber schreiben. Aber im Moment fühlte Ernst sich sehr klein und sehr verletzlich, wie ein winziges, unbeachtetes Rädchen einer gewaltigen Maschinerie.
    Und irgendwie schien nichts davon real zu sein. Nach den Monaten spielerischer Übungen und all den Kneipendiskussionen über die relative Stärke der jeweiligen See- und Luftstreitkräfte und die Seetüchtigkeit von Flusskähnen war plötzlich der Befehl gekommen. Es war seltsam, hier zu sitzen und mit jemandem eine Zigarette zu rauchen, während man sich bemühte, daran zu glauben, dass man morgen um diese Zeit vielleicht schon in England sein würde, und möglicherweise würde entweder der andere oder man selbst dann bereits tot sein, vielleicht auch alle beide … daran zu glauben, dass es diesmal ernst war und nicht bloß eine weitere Übung.
    Und dann, wie aus dem Nichts, kam Josef. Er marschierte an der Hafenmauer entlang, und seine schwarze SS-Uniform hob sich deutlich gegen die tarngrünen Kampfanzüge ab. Die Männer starrten ihn böse an oder ignorierten ihn bewusst. Die Traditionalisten im Heer hatten die SS noch nie akzeptiert. Aber Josef war über all das erhaben. Als er seinen Bruder erblickte, winkte er ihn zu sich.

    Ernst warf seinem Obergefreiten einen Blick zu. Der zuckte die Achseln, den Kopf von Zigarettenrauch umhüllt. Ernst schlüpfte aus den Gurten seines Tornisters, ließ ihn auf dem Boden stehen, erhob sich und ging zu Josef hinüber.
    »Hallo, Bruderherz.« Josef schüttelte ihm herzlich die Hand. Dann sah er Ernst forschend ins Gesicht. »Du wirkst nicht sehr erfreut, mich zu sehen.«
    »Doch, doch, ich freue mich durchaus.« Er schaute sich zu seiner Einheit um. »Es ist nur … ich weiß nicht, ich fühle mich wie ein Jungarbeiter in einer Fabrik, der in der Gunst des Managers steht.« Tatsächlich hatte Josef genau diese Ausstrahlung, wenn er in seiner glamourösen Uniform umherstolzierte. Aber schließlich, dachte Ernst, war 1940 auch ein gutes Jahr für ehrgeizige Nazis.
    »Kümmere dich nicht um diese neidischen Dummköpfe.« Josef sagte es laut, so dass die anderen es hören konnten. »Hör mal, du solltest es zu schätzen wissen, dass ich hier bin. Ich

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