Diktator
sein.« Er sprach ein exaktes Englisch mit starkem Akzent.
Die Fahrgäste gehorchten bis auf Bill, der zu Füßen seiner Bewacher knien blieb; sie ließen sich von dem SS-Offizier ein ins Feld neben der Straße führen.
»Sobald wir die Straße geräumt haben, zieht die Kolonne weiter«, erklärte Thyrolf. »Wir werden Ihnen einen unserer Lastwagen borgen, um Sie zu Ihrem Treffpunkt mit den Engländern zu bringen. Sie sehen also, wir tun alles, um Ihnen weitere Unannehmlichkeiten zu ersparen. Einen Moment, bitte.« Er drehte sich um und sprach mit dem Busfahrer.
Mary fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Etwas in ihr reagierte gegen jede Logik auf die charmante Art dieses SS-Offiziers. »Er ist wie ein Hotelmanager, der sich entschuldigen kommt, weil unser Zimmer noch nicht fertig ist.«
Hilda runzelte die Stirn. »Da stimmt doch was nicht. Warum sollte er uns seinen Namen nennen?«
Mary holte tief Luft. »Es ist eine Erleichterung, von dem Gestank des brennenden Treibstoffs weg zu sein. Wenn man hier in diesem langen Gras steht, kommt einem das alles ein bisschen absurd vor, nicht?«
Sie hörte ein diskretes Hüsteln an ihrer Schulter. Es war Thyrolf mit dem Busfahrer. »Mrs. Wooler? Mrs. Mary Wooler?«
»Ja.«
»Und Sie sind ebenfalls eine Mrs. Wooler? Hilda Wooler?«
»Ja …«
Er wandte sich an Mary. »Dürfte ich Ihren Pass sehen, Mrs. Wooler?« Sie holte ihn aus ihrer Handtasche, und er inspizierte ihn so ernst wie ein Zollbeamter. Dann gab er ihr das Dokument zurück. »Und Sie, Mrs. Hilda Wooler, sind britische Staatsbürgerin, haben aber kürzlich einen Amerikaner geheiratet?«
»Und nicht bloß irgendeinen Amerikaner«, sagte Mary. »Meinen Sohn, den Amerikaner!«
Sein Lachen klang charmant. »Glückwunsch. Haben Sie einen Beleg dafür?«
Hilda holte ihre Ehebescheinigung aus ihrem Gasmaskenbeutel.
»Sehr gut. Wenn Sie beide bitte mitkommen würden. Hier entlang.«Er fasste Mary leicht am Arm und zog sie zur Straße, wo ein Befehlsfahrzeug wartete. Mary folgte ihm widerspruchslos.
Hilda blieb zurück. »Was haben Sie vor?«
»Die in Hurst Green getroffenen Vereinbarungen bezüglich amerikanischer Staatsbürger sind modifiziert worden. Es wird angenehmer für Sie sein, wenn Sie separat transportiert werden. Sie können sofort aufbrechen; Sie brauchen nicht zu warten. Die anderen, die Briten, werden bald nachkommen.«
»Nein.« Hilda trat in die Gruppe der Fahrgäste zurück. »Ich bleibe hier. Ich bin Britin. Ich bin Soldatin, Herrgott noch mal.«
»Hilda?«, sagte Mary. »Was ist denn?«
Thyrolf musterte Hilda. Die Augen hinter seinen Brillengläsern waren sanft. »Sind Sie sicher?«
»Ja. Mary – fahr los.« Hilda sah aus, als hätte sie Mary gern umarmt, aber sie blieb, wo sie war. »Ich komme bald nach. Kennst du Tunbridge Wells? Wir sehen uns dort. Da gibt’s eine Promenade namens The Pantiles – mit einer guten Teestube.« Sie lachte, ein spröder Laut. »Zumindest war sie vor dem Krieg gut. Da treffen wir uns.«
»Abgemacht.«
Mary ließ sich von dem SS-Offizier vom Feld zurück zur Straße und zu dem Befehlsfahrzeug führen. Überwältigt von seiner selbstsicheren Art, wusste sie nicht, was sie anderes tun sollte. Sie musste an Bill vorbeigehen, dem knienden Mann. Seine Augen waren von den Schlägen zugeschwollen, doch als sie vorbeiging, flüsterte er ihr zu: »Peter’s Well.«
»Was?«
»Dieser Ort. Er heißt Peter’s Well. Merken Sie sich das.« Ein Stoß mit dem Gewehrkolben gegen den Hinterkopf brachte ihn zum Schweigen.
Thyrolf half ihr sogar beim Einsteigen. Sie setzte sich neben den Fahrer und stellte den Rucksack auf ihren Schoß. Thyrolf tippte sich grüßend an die Mütze und gab dem Fahrer ein Zeichen.
Als der Wagen losfuhr, schaute Mary zurück. Soldaten
aus der Kolonne gingen nun auf die Buspassagiere zu. Sie sah Hilda, unverwechselbar in ihrer blauen Uniform und mit den roten Haaren. Sie schien die Fahrgäste um sich geschart zu haben und hielt jemandes Hand, die eines älteren Mannes. Kurz darauf war die Gruppe außer Sicht. Mary glaubte, Gesang zu hören, ein trauriges Lied, vielleicht eine Hymne.
Ihre Gedanken waren wie eingefroren. Nur langsam dämmerte ihr, was hier geschah.
Die kurze Salve klang nicht einmal wie Schüsse. Es war ein fernes, friedliches Geräusch. Die krächzenden Krähen, die daraufhin aufflogen, waren beunruhigender. Der Gesang verstummte jedoch. Und dann knallte es ein paarmal hintereinander, in kurzen Abständen.
Mary
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