Dinotod: Tannenbergs vierter Fall
Leidens-Trio. Objektiv besehen war sein Job ja gar nicht so übel, war sogar einer dieser von vielen seiner Zeitgenossen sehnlichst begehrten, unkündbaren Öffentlicher-Dienst-Tätigkeiten, bei denen man einen ›richtig lockeren Lenz‹ schieben konnte.
Ganz Unrecht hatten diese unbedarften Neider sicherlich nicht mit ihrer Meinung, denn der Umfang der von ihm täglich zu bewältigenden Verwaltungsarbeiten war wirklich so gering bemessen, dass er in dem vorgegebenen Zeitraster mühelos damit zu Rande kam.
Was jedoch anscheinend niemand nachzuempfinden vermochte, ja noch nicht einmal in Erwägung zog, war die Tatsache, dass eine solche anspruchslose Berufstätigkeit psychisch enorm belasten konnte. Vor allem dann, wenn man sie auf Dauer ausübte.
Diese zersetzende Stumpfsinnigkeit der Schreibtischarbeit: Immer nur dieselbe langweilige Bearbeitung von immer denselben standardisierten Formularen: Adresse, Datum, Berechnungen, Stempel, Unterschrift. Er empfand diese Marter als unerträgliches Joch, welches ihm das Schicksal aus nicht nachvollziehbaren Gründen aufgebürdet hatte.
Von seiner Persönlichkeitsstruktur her stellte er eigentlich genau das Gegenteil dessen dar, was ihm diese leidige Alltagsroutine tagtäglich abverlangte.
Vor seiner überstürzten Heirat, die, wenn er seine damalige Entscheidung mit dem Abstand vieler Lebensjahre betrachtete, nur aus Pflichtbewusstsein gegenüber einer von ihm geschwängerten Gespielin zustande gekommen war, hatte er in vollen Zügen seine Freiheit genossen. Hatte viel Sport betrieben, einen großen Freundeskreis gepflegt, war so oft es ging in Urlaub gefahren und von einer Blume zur anderen geflogen – wie man so schön sagt.
Und bei einer dieser lustvollen Exkursionen hatte er im wahrsten Sinne des Wortes einen Volltreffer gelandet. Schadenfrohe Menschen freuten sich damals vielleicht sogar darüber, dass er nun endlich seine gerechte Strafe erhielt. Schließlich hatte er die ganze Zeit über die Gefahren seines zügellosen Junggesellendaseins nur allzu leichtfertig verdrängt.
Zunächst hatte ihn die ganze Angelegenheit nicht sonderlich belastet. Aber als er dann damit konfrontiert wurde, dass die von ihm beglückte junge Dame nicht gewillt war, sich der in ihr aufkeimenden Leibesfrucht mit Hilfe eines von ihm gewünschten medizinischen Eingriffs zu entledigen, reagierte er mit einer moralischen Radikalität, die bei seinen Freunden auf völliges Unverständnis stieß.
Quasi direkt vor deren verwunderten Augen verwandelte er sich nämlich wie durch Zauberhand über Nacht von einem leichtfüßigen Casanova in einen geradezu euphorischen zukünftigen Familienvater, der fortan die federleichten Sprinterschuhe im Keller stehen ließ und sich freudestrahlend schwere Wanderstiefel überstreifte.
In seinem direkten persönlichen Umfeld munkelte man damals, dass seine auffällige Verhaltsänderung nur durch seine strenge christliche Erziehung erklärbar sei, die er jahrelang mit Hilfe seines exzessiven Sinnenrausches zu übertünchen versucht habe und die nun umso gewaltiger zurückschlage – so lautete jedenfalls die spekulative Interpretation eines ihm freundschaftlich zugetanen Psychologiestudenten.
Sein Kinn, das immer noch vom linken Arm gestützt in der Handfläche ruhte, verließ für einen Moment sein warmes Bettchen, der ganze Kopf schwenkte nach rechts, wiegte sich ein paar Mal hin und her, bevor er wieder in die Ausgangslage zurückkehrte.
Was hab ich doch damals für tolle Pläne gehabt?, dachte er, akustisch untermalt von einem leisen Brummgeräusch. Weiterbilden, Auslandserfahrungen sammeln, auf der Karriereschiene immer weiter nach oben klettern. Da hatte ich noch Power. Hab mich schon nach wenigen Monaten nach einer anderen Stelle umgeschaut. Sogar im Ausland. Und dann diese verfluchte Schwangerschaft!
Plötzlich zuckte er zusammen, weil er glaubte, etwas Bedrohliches gehört zu haben. Es waren Schritte, die vom Flur kamen und sich geschwind seinem Dienstzimmer näherten. Er spitze die Ohren, war mit einem Male hellwach. Aber es handelte sich wie schon so oft zuvor nur um einen Fehlalarm. Die flinken Schritte passierten sein Büro, die lautlose Stille kehrte zurück.
Wenn er in den langen Jahren seines beruflichen Martyriums wirklich etwas gelernt hatte, dann war es die beeindruckende Fähigkeit, sich von der einen zur anderen Sekunde in eine völlig andere Persönlichkeit zu transformieren: vom apathischen Tagträumer zum geschäftigen
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