Diverses - Geschichten
Sinne. Weiche Blütenblätter streiften sie zärtlich.
Sinnlicher Duft verführte sie, hielt sie fest, erweckte ihre Lebendigkeit, den Wunsch zu leben, zu erleben.
Sie verharrte. Sie blieb. Sie schwelgte in Teerosen, in jugendlicher Frische und Zartheit. Sie schwamm im Duft, schwebte in der Schönheit.
Doch etwas fehlte ihr. Die Teerose war nicht fertig, nicht vollständig, sie ließ etwas vermissen, das – obwohl sie es nicht greifen konnte – wichtig schien, wichtiger als Kindlichkeit und Jugend.
Sie wanderte weiter und traf auf eine Rose, deren Knospe halb geschlossen war, die beschlossen hatte, sich niemals zu öffnen. Sie barg ein Geheimnis, verbreitete Faszination, fesselte in ihrem gelben Schein, dem matten Licht, das sie verströmte.
Ewig hätte sie diese ansehen können, sich in dem Anblick, in dem Rätsel verlieren.
Doch sie wanderte weiter, bis sie auf eine wahre Königin traf, nein – auf eine Kaiserin.
Dunkelrot und voll erblüht schmiegten sich Blatt an Blatt, bildeten eine Krone, die reichhaltig das Innere, den Kern der Blüte umrandeten.
Ihr Duft betäubte sie, vollständig und ganz, verströmte Wissen, Erfahrung und zugleich Lebenslust.
Sie streichelte die Kaiserin, küsste ihre zarten Blätter, liebte den vollen Glanz, den samtenen Schimmer reichhaltigen Zaubers.
So wollte sie sein, so lautete ihre Entscheidung. Diese Rose sprach von Vollkommenheit, von Wundern und Träumen.
Es war die Rose ihrer Zeit.
Und es war an der Zeit. Sie war weit genug gewandert. Diese Rose wollte sie sein. Doch dann musste sie feststellen, dass sie es nicht konnte.
Sie versuchte es, und wie sehr sie es versuchte, aber sie konnte diese Rose nicht sein. Sie war nicht groß genug, nicht reichhaltig genug, nicht stark genug.
Und sie krümmte sich zusammen im Angesicht ihres Versagens, vertrocknete im Glanz einer Perfektion, die sie niemals erreichen würde.
„Ich wollte nur Königin sein“, flüsterte sie. „Nur eine von vielen. Wieso nur darf ich das nicht.“
Da neigte sich die dunkelrote Kaiserin zu ihr herab.
„Sieh dich an“, wisperte sie und ihre Stimme klang wie eine Glocke.
„Sieh dich an, wer du bist.“
Und sie sah sich an, und erblickte eine vertrocknete Blüte, starr und fest in der Zeit stehengeblieben, von einer Farbe, die zarter und zugleich beständiger war, als jede, die sie bislang betrachten durfte.
Und ihr Duft war von einer Süße, die die Welt in Atem hielt, die Pflanzen um sie dazu brachte, sich vor ihr zu verneigen.
„Du bist schön, Großmutter“, sagten sie.
Und die Rose lächelte.
Krieger
Es gärte im Herrmann-Haushalt. Wie immer vor den Weihnachtstagen. Die Anspannung ließ sich mit Händen greifen, und Sascha wünschte sich ein weiteres Mal, seine Eltern hätten ihm erlaubt mit Freunden zum Ski-Fahren zu gehen. Nur heraus aus diesem dunklen Haus, weg von der gedrückten Stimmung, die ihm jedes Mal wieder zu schaffen machte.
Wenn da nicht Kalle gewesen wäre, dann hätte er zumindest härter gekämpft, schwerere Geschütze aufgefahren und sich einen Vorsprung verschafft, einen respektablen Grund, warum er während der Feiertage sein tägliches Schmollgesicht aufsetzte.
Doch seine Mutter brachte, noch bevor er die vorsichtig hervorgebrachte Bitte mit langen und sorgfältig zurechtgelegten Argumenten unterstützen konnte, Kalle ins Spiel. Wohl wissend, dass Sascha nun nicht anders konnte als zuzusehen, wie sich jeder weitere Gedankengang seinerseits in Luft auflöste, verdrängt wurde durch die bloße Vorstellung von Kalles Rückkehr, davon Kalle wiederzusehen, ihm nach so langer Zeit endlich über den Weg zu laufen.
Diesmal konnte Kalle ihm nicht entkommen.
Kalle, der es offensichtlich für witzig hielt, Jahr für Jahr, Woche für Woche, Tag für Tag von Neuem sein Leben aufs Spiel zu setzen. Und das nur für die leeren Ideale, die ihm ihr Vater, dessen unangenehmen Kollegen und das Militär mit seinen abstrakten Prinzipien seit seiner Geburt eintrichterten.
Sascha verstand es nicht, hatte es nie verstanden. Ob es daran lag, dass ihr Vater seinen jüngeren Sohn nie genug wahrgenommen hatte, um ihn in Kalles Fußstapfen zu pressen, wusste er nicht. Vielleicht hatte auch sein erster Blick auf ihn ihm verraten, dass Sascha nicht das Potential in sich trug, welches er in Kalle sah und von einem Herrmann erwartete – wenigstens von seinem Erstgeborenen.
Nicht dass er eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit war, die der Vater seinem Bruder schenkte. Ganz im Gegenteil.
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