Diverses - Geschichten
Flügel vibrierten wieder, zarter noch als jedes Blütenblatt, als sie sich dem Insekt näherte, ihre Hand nach ihm ausstreckte.
“Ooooh, ein Schmetterling!”
Ein kleines Mädchen mit fliegenden Zöpfen rutschte, schlitterte mehr, als es lief, auf Hermine zu und sank staunend neben ihr auf die Knie.
“Ein Wunder”, verkündete es strahlend und sah voller Vertrauen zu der alten Frau hoch.
“Ein Wunder und ein Geschenk des Lebens.”
Hermine Mings erstaunter Gesichtsausdruck veränderte sich und sie lächelte zum ersten Mal an diesem trüben Januartag.
Ein Geschenk? Vielleicht war es das wirklich. Keine Abnormität, keine Warnung, kein Vorbote eines drohenden Klimawandels, nein, ein Geschenk in den Augen des Kindes.
Vielleicht würde es Recht behalten...
*
Schneewittchens Stiefmutter
„Seien wir doch ehrlich zueinander. Wer – gerade in der heutigen Zeit und Gesellschaft – wird mir meine Vergehen ernsthaft übel nehmen?“
Schneewittchens Stiefmutter blickte stolz in die Runde selbstgerechter Ankläger und fuhr fort.
„In einer Zeit, in der Jugend- und Schönheitswahn alles andere in den Schatten stellt, einer Zeit, in der Attraktivität und selbstbewusstes Auftreten wichtiger sind, denn je zuvor. Wer von euch versteht nicht die Ursachen und Beweggründe meiner vielleicht umstrittenen Taten?
Haben wir nicht alle mit den Tücken des Alterns zu kämpfen? Gerade diejenigen unter uns, die mit außergewöhnlicher Schönheit gesegnet sind, trifft doch die erste Falte, das erste silberne Haar erheblich tiefer und schmerzhafter, als den von der Natur weniger begünstigten Durchschnittsmenschen, der es gewohnt ist, mit all seinen Unzulänglichkeiten ins spärliche Rampenlichte seiner täglichen, eintönigen Existenz zu treten.
Wir jedoch, die stets makellos, eindrucksvoll, in Perfektion gezwungen sind zu blenden – für uns ist es wahrlich unerträglich, mit ansehen zu müssen, wie aus tapsigen, unförmigen Kleinkindern über Nacht bezaubernde Elfen erblühen, neben denen unsere eigene Schönheit mit einem Mal zu erblassen droht. Wer könnte es uns verdenken, dass wir einen magischen Spiegel zu Rate ziehen, dass wir die Hilfe treuer Lakaien benutzen, um von unserem Ruf zu retten, was zu retten ist.
Doch das Schlimmste von allem ist die vorgetäuschte Ahnungslosigkeit der nachwachsenden Generationen von Schneewittchen, Dornröschen, Rapunzeln und wie sie sich alle nennen mögen.
Sie bemerken es nicht. In geradezu nerv tötender Unschuld nehmen sie uns Schritt für Schritt den Glanz, lassen unsere Bemühungen, das zu erhalten, was die Blicke des Volkes, die Blicke unzähliger Bewunderer auf sich zieht, als fruchtlos ersterben und geben ernsthaft vor, nicht zu erkennen, was sie uns damit antun.
Wer – so frage ich Sie ganz im Ernst -- wer kann nicht nachvollziehen, wenn in einem unbedachten Moment die Versuchung zu stark wird. Wenn vielleicht mit Unterstützung eines willigen Jägers, der dem Ego schmeichelt, die Chance zum Greifen nahe liegt, dem drohenden Absinken in die Vergessenheit Einhalt zu gebieten. Wer von euch würde nicht schwach werden, wenn es, kurz gesagt, um das nackte Überleben, um die Erhaltung einer Schönheit geht, die das Werk von Jahrzehnten harter Arbeit ist. Wenn die Macht in Gefahr ist, die aus dem äußeren Eindruck erwächst, wenn das Gebäude, das auf tönernen Füßen steht, das innen hohl ist und doch die Welt regiert, Gefahr läuft einzustürzen.
Wer von euch, wer von euch würde nicht mit allen Kräften kämpfen, würde nicht das verteidigen, was ihm gehört, was ihm zusteht, was von Rechts wegen sein eigen genannt wird.
Und dieses auch solange tun bis ein neuer Blender kommt, jemand, der seine Vorteile skrupellos auszunützen weiß, jemand der keine Skrupel kennt, eine bewährte, gefestigte Macht ohne Bedenken vom verdienten Thron zu stoßen.
Wer von euch wagt es zu richten, wer von euch wagt es, mir ins Gesicht zu sagen, ich hätte ein Unrecht verübt?“
Schneewittchens Stiefmutter neigte ihr stolzes Haupt und nahm den nicht enden wollenden Applaus ihrer Bewunderer demütig entgegen, ohne den bösen Blicken der dunkelhaarigen Stieftochter und ihres Prinzen Beachtung zu schenken.
* * *
Rotkäppchens Großmutter und ihre bislang unerzählte Sicht der Dinge
Was für ein Leben.
Als wäre es nicht schlimm genug, erkältet im Bett liegen zu müssen. Nein, nicht einmal mehr das Bett gönnte man ihr jetzt, nicht einmal die friedliche Ruhe, die sie
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