Doberstein & Rubov 01 - Feuerfrauen
der alten Garnisonsstadt Wolgast bekam Sina kaum etwas mit. Gabi hatte die Geschwindigkeitsbegrenzung für Ortschaften kurzerhand außer Kraft gesetzt. Der graue Kastenwagen schoss wie ein Rettungswagen im Einsatz durch die 6.000-Seelen-Gemeinde. Die dreischiffige Pfarrkirche St. Petri im Ortskern sah Sina nur undeutlich. Das Backsteinbauwerk verschwamm durch die beschlagene Scheibe, die von außen mit Regentropfen benetzt war.
Minuten später sauste der graue VW bereits wieder aus dem Städtchen heraus und hielt auf eine Zugbrücke zu. Sina bekam, trotz Gabis Raserei und dem kleinen Disput von vorhin, wieder Lust an ihrer Unternehmung. Sie schlug in einem schmalen Reiseführer nach, was sie in dieser für sie völlig unbekannten Gegend so alles an Sehenswürdigkeiten passieren würden. Sie legte einen belehrenden Tonfall auf, als sie vorlas: »Die Wolgast-Zugbrücke. Jetzt sind wir auf der Insel Usedom. Linker Hand sehen Sie das bekannte Achterwasser.« Sie wies aus dem Seitenfenster. Die Sonne hatte sich durch eine kleine Lücke in der Wolkenwand gekämpft und tauchte die zuvor triste Landschaft in ein sanftes Gold. In ihrem Licht glänzte der breite Streifen Wasser, der Usedom vom Festland trennt. Sina wollte es kaum glauben: Trotz der Kälte tummelten sich Surfer in schwarzen Neoprenanzügen auf den ansehnlichen Wellen. Und das Anfang April. Ein zähes Völkchen hier oben.
Sie wollte wieder zu ihrem schulmeisterlichen Vortrag zurückkommen, als Gabi barsch dazwischenfuhr. »Lass den Unsinn, Sina! Sag mir lieber, wie es nun weitergeht.«
Weniger diese Aufforderung als vielmehr der strenge, geradezu scharfe Ton ließ Sina von ihrem kleinen Spielchen abkommen. Sie überlegte sich, einen Moment lang zu schmollen, verkniff es sich aber. Nach einem kurzen Blick auf die Landkarte sagte sie lapidar: »Die nächste Abzweigung links zum Peenemünder Haken.«
»Haken?« Gabriele fühlte sich offenbar auf den Arm genommen.
Sina erklärte: »Der nördliche Teil der Insel sieht halt aus wie’n Haken.« Sie zeigte es ihrer Freundin auf der Karte. Tatsächlich schien sich die Insel an ihrer Nordspitze zu einem nasenförmigen Haken zu verjüngen. Sina fuhr mit ihrem Finger die gewölbte Form des Hakens auf ihrer Karte nach und versuchte dabei, die kleinen Buchstaben daneben zu entziffern. »Die Leute scheinen hier ’ne ziemlich bildhafte Sprache zu haben: Haken, Achterwasser. Das liegt achtern, hinter Usedom, abgetrennt von der eigentlichen Ostsee. Oder der Ortsname Peenemünde. Da, wo die Peene mündet. Und siehst du hier: Greifswalder Bodden …«
»Bodden?« Gabi musterte Sina ungläubig von der Seite an.
»Na, Bodden wie Bo-den. Weil da die Ostsee so flach ist, dass man mit ’ner Stange überall den Boden erreichen kann.«
Gabi blieb skeptisch und stierte mit verkniffener Miene zur Frontscheibe hinaus. »Woher willst du das denn alles so genau wissen? Du bist doch auch noch nie hier gewesen.«
Sina gönnte der Fahrerin ein mildes Lächeln. »Nee, aber lesen bildet.« Mit diesen Worten hielt sie ihr ihren kleinen Reiseführer unter die Nase, aus dem sie auch schon ihre Weisheiten über die anderen passierten Orte entnommen hatte. Aufmüpfig setzte Sina noch einen drauf: »Müsstest du eigentlich wissen.« Sina genoss den verdutzten und – wie sie fand – recht blöden Gesichtsausdruck ihrer Freundin. Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und kostete den kleinen Sieg, den sie in ihrem verbalen Scheingefecht errungen hatte, aus. Still schmunzelte sie vor sich hin.
Der unscheinbare Kastenwagen suchte sich seinen Weg entlang des Ostufers der Halbinsel. Nach den vielen Stunden Fahrt, die die beiden Frauen hinter sich hatten, schien die Straße unendlich lang zu sein. Zwischen dem Sandstrand, der um diese Jahreszeit alles andere als einladend aussah, und der Fahrbahn standen vereinzelt Bäume. Kiefern, robust genug, um in dem kargen Boden zu überdauern. Nach wenigen Kilometern verdichteten sie sich zu einem schmalen Waldstreifen. Sina stutzte: Die Baumgruppen waren eingezäunt. Eine Schonung? Hier, direkt am Strand? Und ausgerechnet für Kiefern? Sie versuchte ihren Blick auf die Schilder zu fokussieren, an denen der Wagen vorbeirauschte. Beim fünften Schild gelang es ihr, und sie las: ›Betreten verboten‹. Auf einem weiteren Schild nahm sie vage einen mahnenden Totenkopf wahr.
Unvermittelt endete der Wald kurz vor der Ortseinfahrt von Peenemünde. Das Dorf machte auf die Frauen keinen besonders guten ersten
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