Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
Bahngleise, die die Basin Street vom French Quarter trennten. Soweit Belle verstanden hatte, war die Basin Street die erste Adresse im Bezirk; hier gab es die nobelsten Freudenhäuser, die schönsten Mädchen, das beste Essen und Trinken und die beste Unterhaltung. Die Etablissements, die sich in den Straßen hinter der Basin Street befanden, ob es nun Saloons, Restaurants oder Bordelle waren, wurden, je weiter sie am Ende des Bezirks lagen, umso billiger und primitiver. Im letzten Block, an der Robertson Street, waren die Bars Kaschemmen, und die Prostituierten verkauften sich dort für ein paar Cent. Manche konnten sich nicht einmal die Miete für eine der billigen »Kisten« leisten.
Betty hatte ihr von diesen »Kisten« erzählt. Es handelte sich dabei um eine Reihe winziger Zimmer, in denen nur ein Bett Platz hatte. Die Männer standen davor Schlange, und wenn einer herauskam, ging der nächste hinein. Betty sagte, dass ein Mädchen auf diese Weise bis zu fünfzig Männer pro Nacht abfertigen konnte. Aber sie wurden von Zuhältern kontrolliert, die ihnen fast alles, was sie verdienten, abknöpften und sie häufig verprügelten, wenn sie nicht genug einnahmen. Für diese Mädchen gab es keine Annehmlichkeiten wie ein Bad oder eine Innentoilette. Ihr Leben war unvorstellbar hart, und die meisten von ihnen flüchteten sich in Alkohol oder Opium. Betty sagte, dass die Männer, die zu ihnen kamen, zur übelsten Sorte gehörten, und dass für die Mädchen keine Hoffnung auf Verbesserung bestand und die meisten den Tod als Erlösung sahen.
Zu Belles Enttäuschung konnte sie nicht mehr als die Bahngleise gegenüber sehen, obwohl sie sich weit aus dem kleinen Fenster lehnte. Einstweilen musste sie sich mit dem begnügen, was sie am Vortag flüchtig erspäht hatte – große, massiv gebaute Häuser, von denen nicht ein einziges so baufällig war wie die in Seven Dials. Von Hatty hatte sie erfahren, dass die meisten in jedem Zimmer elektrisches Licht und Dampfheizungen hatten.
Obwohl es erst April war, schien die Sonne warm auf Belles nackte Arme und ihr Gesicht, wie an einem Sommertag daheim. Sie dachte daran, wie grau, kalt und windig es um diese Jahreszeit in Seven Dials war, und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie eher froh als traurig war, hier zu sein.
Sie wünschte, sie könnte jetzt gleich hinausgehen und durch den Bezirk bummeln, aber sie hatte das Gefühl, dass Martha nicht begeistert wäre, wenn sie das Haus verließ, ohne um Erlaubnis zu bitten.
Sie öffnete die Tür, trat auf die schmale Stiege, die zum nächsten Stockwerk hinaufführte, und lauschte, ob schon jemand anders aufwar. Aber abgesehen von einem leisen Schnarchen, das aus Hattys Zimmer zu kommen schien, war kein Laut zu hören.
Sie konnte die Zigarren vom Vorabend riechen, und auf dem Treppenabsatz unter ihr lag ein blaues Satinstrumpfband auf dem rotgoldenen Teppich. Sie fragte sich, welchem der Mädchen es gehörte und wie es dort gelandet war. Vor dem Gangfenster hing eine hübsche weiße Spitzengardine, und da die Badezimmertür einen Spalt offen stand, konnte sie den schwarz-weiß gekachelten Boden und einen Teil der Badewanne sehen.
Alles sah sauber, frisch und schön aus, und sie lächelte in sich hinein, als sie daran dachte, dass sie in Paris nur an Flucht gedacht hatte. Hier hätte sie sich noch in dieser Minute anziehen und zur Tür hinausgehen können. Aber sie stellte fest, dass sie es eigentlich nicht wollte – und zwar nicht nur, weil sie nicht mehr als die zwei Dollar und fünfzig Cent besaß, die sie gestern Abend als Trinkgeld bekommen hatte. Es gefiel ihr hier.
»Wird Zeit, mich wie die anderen Mädchen zu benehmen«, murmelte sie, während sie in ihr Zimmer zurückging und sich wieder ins Bett legte.
Eine Woche später, gegen drei Uhr morgens, als Belle allein im Salon war, um Gläser und Aschenbecher einzusammeln, hörte sie draußen auf der Straße Schreie.
Es war ein ruhiger Abend bei Martha gewesen. Der letzte Gentleman war vor einer halben Stunde gegangen, und da mit keinem weiteren Besucher zu rechnen war, waren die Mädchen zu Bett gegangen. Martha hatte sich in ihr Zimmer im ersten Stock zurückgezogen, und Cissie war in der Küche und machte sich eine Tasse Tee.
Belle stellte das Tablett mit Gläsern ab und trat ans Fenster. Ungefähr zwanzig Meter entfernt konnte sie eine kleine Menschenmenge sehen. Sie standen vor Tom Andersons Lokal, das erkannte Belle an dem hellen Licht, das durch die
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