Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
Hause. Die Atmosphäre in Marthas Haus war ähnlich wie bei Annie, aufgeladen mit freudiger Erwartung, ein wenig hektisch und doch warm und anheimelnd. Es roch sogar gleich – nach Parfüm und Zigarren, und auch die Klänge, das Rascheln seidener Unterröcke und mädchenhaftes Kichern, waren ihr vertraut. Zu Hause war sie abends nie oben gewesen, aber diese Gerüche und Geräusche hatten das ganze Haus durchdrungen.
Hier gab es außer ihr nur noch fünf andere Mädchen, alle achtzehn bis neunzehn Jahre alt und auffallend hübsch: Hatty, Anna-Maria, Suzanne, Polly und Betty. Als Belle sie am frühen Abend die Treppe hinunterkommen sah, jede von ihnen in einem farbenfrohen Seidenkleid, das genug von ihren Reizen zeigte, um jeden Mann in Versuchung zu führen, hatte sie das Gefühl, fünf seltene und wunderschöne Treibhauspflanzen zu bewundern.
Bei ihrer ersten Begegnung hatten sie nicht so ausgesehen. Obwohl es schon Nachmittag gewesen war, waren sie gerade erst aufgestanden, unfrisiert und nur mit losen Tüchern über ihren Hemden bekleidet.
Während die Mädchen Obst und Gebäck aßen und Kaffee tranken, machte Martha sie mit Belle bekannt. Sie schlug Belle vor, ein bisschen über sich zu erzählen, und da Belle die anderen als Freundinnen und Verbündete gewinnen wollte, hatte sie erzählt, dass sie in einem Bordell aufgewachsen war. Auch den Mord, dessen Zeugin sie geworden war, hatte sie geschildert.
Hinterher war sie unschlüssig, ob sie nicht zu viel verraten hatte und ob es vielleicht besser gewesen wäre, das alles für sich zu behalten, aber die Mädchen hatten an ihren Lippen gehangen, sie bemitleidet und alles Mögliche über England wissen wollen. Ihre Anteilnahme überraschte Belle, die sich erinnerte, dass es daheim immer viel Zank und Neid gegeben hatte, wenn ein neues Mädchen kam.
Anna-Maria mit dem rabenschwarzen Haar war Kreolin, und ihr französischer Akzent erinnerte Belle tröstlich an Etienne. Hatty und Suzanne kamen aus San Francisco, und wie bei Belle hatte Martha dafür bezahlt, sie hierherbringen zu lassen. Sie beeilten sich zu sagen, dass sie nichts bereuten, und obwohl ihr Ein-Jahres-Vertrag mit Martha vor Monaten abgelaufen war, wollten sie bleiben.
Polly und Betty hatten zusammen in einem Bordell in Atlanta gearbeitet, aber als es von der Polizei geschlossen wurde, waren sie nach New Orleans gegangen. Sie sagten, sie hätten großes Glück gehabt, bei Martha zu landen und sofort aufgenommen zu werden.
Alle fünf waren weiß. Anscheinend waren gemischtrassige Häuser nicht gestattet, und farbige Mädchen arbeiteten in anderen Häusern.
Am frühen Abend setzte sich der Pianist im Salon ans Klavier und spielte Musik, die Mädchen verteilten sich dekorativ auf den Sofas, und bald darauf trafen die ersten Gentlemen ein. Zu Belles Überraschung schienen sie tatsächlich Gentlemen zu sein. Sie hatten erstaunlich gute Manieren, benutzten keine Kraftausdrücke und behandelten die Mädchen wie echte Damen. Alle trugen gut geschnittene Anzüge, gestärkte weiße Hemden, auf Hochglanz polierte Stiefel und sorgfältig gestutzte Schnurrbärte und Vollbärte. Einige von ihnen prunkten mit jener Art grell gemusterter Westen und protziger goldener Uhren, die Etienne bei der Überfahrt als untrügliches Kennzeichen für »weißes Pack« bezeichnet hatte. Aber auch wenn diese Männer ein bisschen derb und laut waren, benahmen sie sich sehr höflich. Belle fand es sehr nett, dass sie den Pianisten um bestimmte Stücke baten, damit sie mit den Mädchen tanzen konnten.
Der Pianist war ein Schwarzer und hieß Errol, aber anscheinend wurde hier jeder Pianist »Professor« genannt. Er kannte Hunderte Stücke und spielte sie alle ohne Noten nach dem Gehör. Bei manchen Melodien kribbelte es Belle in den Füßen und es drängte sie, selbst mitzutanzen. Betty sagte ihr, dass diese Musik Jazz hieß und dass sie davon noch mehr hören würde, weil es die Musik von New Orleans war. Aber der Professor konnte auch singen – er hatte eine schöne tiefe, rauchige Stimme –, und bei manchen Liedern hatte er den Text verändert und sang ziemlich anzügliche Sachen über Marthas Haus, die alle zum Lachen brachten.
Belle servierte den Gentlemen Whisky, Wein oder Champagner, Getränke, die ihr mit einem Dollar pro Glas schrecklich teuer erschienen, zumal sie wusste, dass der »Wein«, den die Herren den Mädchen spendierten, nur rot gefärbtes Wasser war. Sie fand es schön, dass die Männer nicht gleich
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