Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dog Boy

Dog Boy

Titel: Dog Boy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Hornung
Vom Netzwerk:
dem vom Berg herübergewehten Müll. Im Inneren des Gebäudes fanden sich nur Abfall und unter freiem Himmelwucherndes Unkraut. In ihrer Trostlosigkeit wirkte die Kirche öder als nackter Beton. Der Pfad, der zur Ecke führte, war frei. Sie gingen durch die Ruine, bis sie ein schartiges Loch im Fußboden erreichten. Vorsichtig ließen sie sich durch die kaputten Dielen hinab und kletterten durch den Trümmertunnel in die dunkle Höhle.
    Es war ein großer Keller, fast so lang wie das ganze Gebäude und viel größer, als sie erwartet hatten. Natalja blickte sich in der Dunkelheit um, überwältigt von der Aufgabe, die sie übernommen hatten. Dieses schreckliche Loch war vermutlich sein Zuhause gewesen, ihr Zuhause. Ihr hartnäckiger Glaube an eine gütige Mamotschka schwand endgültig dahin, und sie stellte sich Romotschkas und Markos Mutter als einen weiblichen Blaubart oder Fagin vor, jemanden wie die bizarre Madonnenmutter, der sie gerade begegnet waren.
    Der Boden unter ihren Füßen war klebrig. Der Geruch war ekelhaft, überwältigend: In der Höhle herrschte der übelste Hundegestank, den sie je erlebt hatte. Und dann war da noch etwas anderes. Tod und Verwesung. Sie knipste ihre Taschenlampe an und holte tief Luft, während der gelbe Lichtstrahl über das Tohuwabohu glitt. In einer Ecke türmte sich ein riesiger Haufen Lumpen, übersät mit Hundehaaren. Überall lagen Plastiktüten. Hier und da fanden sich Knochen, und dann fiel das Licht der Taschenlampe auf die flach ausgestreckten, verstümmelten Kadaver irgendwelcher großen Tiere – ein flüchtiger Blick auf schartige Schädellöcher und eine beunruhigend vertraute schmutzige Fratze. Die Knochen waren nicht weiß, sondern braun. Sie zählte drei Schädel und mehrere vertrocknete Haut- und Fellfetzen. Einen Brustkorb mit einem ramponierten Plastikschwert, das sich zwischen den Rippen hindurchschlängelte.
    Sie erschauderte. Die Schädel sahen aus, als stammten sie von großen Hunden. Fraßen sie sich etwa gegenseitig? Dieser Gedanke brachte eine weitere Vorstellung aus der aufgewühlten Dunkelheit in ihrer Brust ans Licht. Sie bemühte sich, nicht tiefer in den Schatten zu blicken, da sie plötzlich befürchtete, dort könnten auch menschliche Knochen herumliegen.
    Sie war erschüttert und entsetzt, dass ein Menschenkind inmitten dieser schauderhaften Sachen gelebt und das Ganze höchstwahrscheinlich als normal betrachtet und gar nicht mehr wahrgenommen hatte. Nichts zeigte schonungsloser, dass sie hier am Rand des Todes gelebt hatten. An der gegenüberliegenden Wand erblickte sie schaudernd eine auf dem Rücken liegende Leninstatue, die mit ausdrucksloser Gelassenheit an die Decke starrte. All das schien eine wirre Bedeutung zu haben. Doch das Schlimmste war, dass überall Kinderspielzeug herumlag. Ein kaputtes Tretauto lehnte verkehrt herum an Lenins Schulter. In der ganzen Höhle waren große rote, gelbe und blaue Bauklötze verstreut, alle angekaut.
    Sie blickte nach unten und sah, dass sie auf zwei zerfetzten Pfauenfedern stand. Ringsum lagen noch mehr davon. Verblüfft starrte sie die Federn einen Augenblick an, doch dann erinnerte sie sich, dass Khan vor einiger Zeit aus dem Moskauer Zoo entflohen war. Dann war das kostbare Juwel also hier gelandet. Die ganze Sache hatte etwas Schreckliches. Etwas Furchterregendes. Nichts, was verlorenging, war je wirklich verloren. Ein Pfau war hier gewesen, in Leben und Tod unabänderlich ein Pfau. Er hatte bloß sterben müssen, weil er ein bisschen aus der Reihe getanzt war, sich ein Stückchen aus dem Gebiet entfernt hatte, in dem sich ein Pfau in Moskau aufhalten sollte. Ein Junge war hier gewesen – nein, zwei Jungen – verlorengegangen, und doch nicht verloren, ohne solche Beständigkeit in ihrem seltsamen wandlungsfähigen Ich.
    Und natürlich waren da die Welpen, die jetzt lautlos in dem Lumpenberg kauerten, den sie am Anfang gesehen hatte. Natalja tappte zu Dimitri hinüber, der bereits am Nest hockte. Drei von ihnen waren noch am Leben; einer, ganz am Rand ihres nach Verwesung stinkenden Lagers, war tot. Alle grau-golden mit heller Maske. Sie waren noch ganz jung, die Augen gerade erst offen, und noch sehr schwach. Seit Romotschkas Gefangennahme waren zwei Tage verstrichen.
    Sie betastete den Rand des Nestes und spürte bei jedem Atemzug, jeder Berührung, wie sie von etwas viel Schlimmerem als einer Hundehöhle in einem Kirchenkeller vergiftet wurde. Wie sollten sie einen achtjährigen Jungen, der

Weitere Kostenlose Bücher