Dog Boy
anderen, die Nasen am Boden und etwas wissend, das er weder sehen noch riechen konnte. Er sah ihre Neugier, ihre Freude, ihre Faszination, ihre Unsicherheit, ihre Angst, ihre Sorge, ihre Begeisterung; sah, wie sie langsamer wurden, die Richtung änderten, umkehrten, wieder schneller liefen, wie sie wegen der Gerüche, die ihnen in die Nase stiegen, stehenblieben und lauschten. Er sah, wie sie jagten, wie sie etwas verfolgten, bis sie es aufgespürt hatten, und erkannte an ihrer Körperhaltung den Augenblick, in dem sie die Grenze zu geschlossenen Pfaden überschritten. Er sah ihre Besorgnis bei der Nahrungssuche in einem fremden Revier. Doch er selbst roch nichts. Er hatte einmal versucht, der Fährte von Brauner Bruder über die Freifläche zu folgen. Doch als er geglaubt hatte, die Fährte aufgespürt zu haben, hatte er sich umgedreht und gesehen, dass Brauner Bruder stattdessen ihm gefolgt war.
Wie sollte er ohne guten Geruchssinn je richtig jagen können? Er betastete seine Nase und seine kleinen Zähne und war äußerst unzufrieden. Er rieb über seine unbehaarten Arme, betastete seine schwieligen Hände und die langen, eingerissenen Fingernägel.
Vom ersten Treffpunkt aus führten Pfade durch das Ödland und die Sümpfe zum Berg, zum Friedhof, zum Wald und zur Stadt – offene Pfade, die immer gleich waren und die geschlossenen Pfade anderer Rudel umgingen. Auf dem Berg, am Rand des Friedhofs und im Wald gab es noch andere Treffpunkte. Der Weg nach Hause oder nach draußen bezog diese Stellen immer mit ein, und alle (außer Romotschka) konnten dort erfahren, ob die Gegend sicher und die Jagd erfolgreich gewesen war.
Er lernte den Berg, den Rand des Friedhofs und den Wald kennen, aber nicht die Stadt. Ja, er wusste nicht einmal, dass ein Pfad dort hinführte, zu dem Ort, von dem er vor langer Zeit gekommen war. Er lernte, die Wohnblocks, die verlassenen Baustellen und die Lagerhäuser zu umgehen, die zwischen ihrer Höhle und der Stadt lagen und an die Landstraße auf der anderen Seite des Friedhofs grenzten. Die blau gekachelten Wohnblocks mit den großen Wiesenflächen, den Spielplätzen und Kinderbanden waren für alle Hunde offene Pfade. Dort lebten keine Rudel, aber viele Haushunde. Im Laufe der Zeit lernte Romotschka, dassdie geheimnisvollen geschlossenen Pfade in der Nähe von Menschen unberechenbar waren und dass die Kinderbanden zu ihren größten Feinden gehörten.
Er lernte, dass die nächstgelegenen Lagerhäuser und die geheizten Tunnel, die darunter hindurchführten, von älteren Kindern bewohnt wurden, lernte, diesen Kindern aus dem Weg zu gehen. Zu Hunden waren sie freundlich, aber gegenüber fremden Kindern und Erwachsenen verhielten sie sich äußerst aggressiv. An ihren Treffpunkten und Sammelplätzen lagen die Plastiktüten verstreut, die sie sich an die Nase hielten. Als Romotschka die Lagerhausbande zum ersten Mal bemerkte, hob er auch eine der Plastiktüten auf. An ihrem Boden klebte ein grauer Klumpen, von dem ein schwacher, seltsam angenehmer chemischer Geruch ausging. Eine Zeitlang klaubte er diese weggeworfenen Tüten auf, hielt sie sich ans Gesicht, wie er es gesehen hatte, und sog den einzigartigen Geruch dieser großen Kinder ein. Doch als er feststellte, dass seine Nase danach jedes Mal eine Weile unbrauchbar war, ließ er davon ab.
Das kleine Rudel in der verlassenen Kirche besaß ein unsicheres Territorium. Die Menschen waren keine Bedrohung. Die Kirche war so verfallen und der Kälte ausgesetzt, dass sie den Obdachlosen keinen Schutz bot und schon vor langer Zeit durch eine neue Kirche auf festerem Grund ersetzt worden war, deren Turm und Kuppel weit hinter dem Berghang über den Baumwipfeln schimmerten. Doch sie waren hier nicht sicher vor anderen Hunden. Ihr Rudel war schwächer und zahlenmäßig kleiner als die anderen, und manchmal wurden sie auch von einzelnen Hunden angegriffen, besonders wenn sie allein nach Nahrung suchten. Rudelhunde umkreisten sich in der Regel zwar zähnefletschend, kämpften aber nur selten miteinander. Kein Hund konnte es sich leisten, bei einem Kampf verwundet zu werden, und kein kleines Rudel konnte es sich leisten, einen Hund zu verlieren.
Sie waren äußerst vorsichtig, und ihr Pfad führte über Umwege aus der Kirche. Romotschka lernte, die Höhle über die Freifläche zu verlassen. Wenn er direkt vor der Ruine stand, konnte er die Gasse entlangblicken und alles sehen, was zwischen ihnen und dem Berg lag, doch er lernte, sich
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