Dog Boy
eine Gasse und versteckte sich in einem leeren Pappkarton, der neben einem Müllcontainer lag. Mit zugeklapptem Deckel saß er zusammengekauert da und horchte. Er zitterte am ganzen Körper. Die Frau schrie immer weiter, doch Romotschka wusste, dass Weiße Schwester und Grauer Bruder nicht mehr bei ihr waren: Dazu klangen die Schreie zu gleichmäßig. Sein Herz hörte auf zu pochen, doch ihm dröhnte noch immer der Kopf.
Er kramte und schnupperte in den Tüten. Hühner! Zwei Stück! Ohne Federn. Käse! Ein großes halbes Rad. Würste! Sellerie, Möhren, Zwiebeln. Gurken. Eine Leber! Und was war dieses große Ding? Er schnupperte daran, seine Nase noch betäubt von der Leber. Ein Kohlkopf! Um die Ecke herrschte jetzt helle Aufregung, er hörte die Frau immer noch brüllen und schreien. Er wartete und fingerte an den Nahrungsmitteln herum, bis alles ruhig war. Weiße Schwester und Grauer Bruder waren bestimmt nicht weit weg. Er wusste, dass sie ihn finden würden. Sie mussten verhindern, dass ihm irgendein großer Junge oder ein Hund die Beute wegnahm.
Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen. Es überkam ihn ganz allmählich. Immer wieder sah er vor sich, wie er mit seiner Keule nach der Frau schlug. Dreckskerl! Bomsch! Bestie! Seine erste Mutter wäre wütend gewesen.
»Dreckskerl. Bomsch . Bestie.« Er sagte die Worte immer wieder vor sich hin, und in dem dunklen Karton jagte ihm seine eigene heisere Kinderstimme Angst ein. Plötzlich zerfiel eine riesige Schranke zwischen ihm und den Menschen, die er bisher in sich getragen hatte. Sie hatten am unantastbaren Rand seiner Welt gelebt; gefährlich wie Hunde mitSchaum vor dem Maul, doch auch so bedeutungslos wie diese kranken Tiere. Leise weinte er in sich hinein.
Bald hörte er, wie die Hunde draußen seine Fährte verfolgten, und dann schob sich die Nase von Grauer Bruder zwischen den Kartonklappen hindurch. Romotschka kicherte erleichtert und leckte den großen Kopf wie besessen. Er rieb das Gesicht und die Nase an den wolligen Schultern. Dann stieg er aus dem Karton und zog die Tüten heraus. Er ließ die Hunde an seinen Fingern und den Hühnern in der Tüte schnuppern. Sie sprangen freudig und triumphierend umher, und das steigerte seine Laune gewaltig. Er packte alles in eine Tüte, steckte sie in die andere, und dann brachen sie auf.
Von nun an griffen Romotschka und die drei jungen Hunde immer wieder Menschen an. Sie entfernten sich so weit aus ihrem eigenen Stadtviertel, wie es ihnen sicher erschien, und damit erweiterte sich ihr Gebiet der offenen Pfade beträchtlich. Sie entwickelten eine Strategie, sodass Romotschka nicht mehr als Erster angreifen musste. Es war ungeheuer aufregend. Er suchte ein geeignetes Opfer aus, jemanden mit Einkaufstüten in einer verlassenen Gasse, und schlenderte hinter dem Menschen her oder an ihm vorbei, froh, dass dieser in ihm keinen Hund auf Nahrungssuche erkannte. Und wenn er meinte, der richtige Augenblick sei gekommen, kläffte er. Dann tauchten Weiße Schwester, Grauer Bruder und Schwarze Schwester lautlos aus der Dunkelheit auf und hielten den Menschen in Schach. Romotschka stürzte sich ins Getümmel, nahm die Tüten, und die drei Hunde drängten das wütende, ängstliche Opfer an die Wand, bis er in Sicherheit war. Dann zogen sie sich wieder in die Dunkelheit zurück.
Romotschka achtete jedoch darauf, dass sie es nicht zu oft taten und nie zweimal am selben Ort. Das würden sich die Menschen bestimmt nicht allzu oft gefallen lassen. Doch es war sein ganzer Stolz, seine besondere Art der Nahrungssuche mit den drei anderen. Er begann, Menschen zu beobachten, so wie er Vögel beobachtete, wenn er sehen wollte, wo sich ihre Nester befanden.
Die einzelnen Mitglieder des Rudels hatten jeweils ihr eigenes Verständnis von den Menschen entwickelt. Grauer Bruder bettelte ab und zu, aus sicherer Entfernung. Goldene Hündin und Schwarzer Rüde machten manchmal zum Spaß Jagd auf Kinder, und Romotschka und die drei anderen beteiligten sich daran. Wenn sie alle zusammen waren, konnten sie sogar Erwachsenen Angst machen, besonders Kranken oder Betrunkenen. Die erinnerten Romotschka dunkel an Onkel, und er jauchzte vor Freude, wenn er sie vor dem Rudel davonlaufen sah.
Mamotschka mied die Menschen und hatte Romotschka und den drei anderen beigebracht, sie zu fürchten. Doch mit der Zeit merkte er, dass Mamotschka trotz ihres Misstrauens am stärksten von ihnen allen an den Menschen hing. Im Gegensatz zu den anderen
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