Dog Boy
Besuche etwas mit der leichten geistigen Rückentwicklung des Kleinen und der Verschlechterung seines körperlichen Zustands zu tun hatten; vielleicht auch mit Markos vergeblichem Versuch, sprechen zu lernen. Er konnte es nicht erklären. Markos Spielverhalten ließ auf entsprechende kognitive Fähigkeiten im Sprachbereich schließen. Bei seiner Ankunft hatte er alle Voraussetzungen für schnellen Spracherwerb erfüllt, und dennoch tat sich nichts. Romotschka sprach, aber Marko nahm kaum Notiz davon. Doch wenn Romotschka grollte oder murmelte, reagierte Marko sofort. Irgendwann hatte Dimitri eine Anmerkung dazu geschrieben und es anfangs mit der Geschichte von Viktor, dem Wilden von Aveyron, in Zusammenhang gebracht, der keine Pistolenschüsse beachtete, jedoch lebhaftes Interesse am Knacken einer Nuss zeigte. Während Romotschkas Abwesenheit vermisste Marko seinen älteren Bruder immer schmerzhafter. Dimitri fiel nichts Besseres ein, als auch den älteren Jungen in seine Obhut zu nehmen.
Unten, am Ende der Auffahrt, gesellte sich der große weiße Hund zu dem Jungen. Natalja hatte schon vor über einer Woche gesagt, dass sie ihn fortjagen wollte. Der Hund leckte Romotschkas Hand, ohne dass der Junge es zu bemerken schien, und lief dann hinter ihm her. Romotschka blieb am Tor stehen, bückte sich und schnupperte daran. Dann urinierte er, ohne sich umzusehen, ganz beiläufig draußen an den Torpfosten. Seltsam.
O Gott .
Er hatte es die ganze Zeit vor Augen gehabt! Es gab zwei von ihnen! Ihm wurde schwindlig.
~
Dimitri war schon über eine Stunde zu Fuß unterwegs, kräftig ausschreitend, scheinbar entschlossen, doch in Wirklichkeit ohne Ziel. Wie konnten zwei Brüder zu Hundejungen, zu Wolfskindern werden? Wer waren die beiden, der eine dunkelhaarig, der andere blond? Die Erinnerung daran, wie aufgeregt er wegen Markos Entdeckung gewesen war, wurde von einem heftigen Gefühl der Scham begleitet. Das lag nicht bloß daran, dass Romotschkas Existenz alle Daten beeinträchtigte und abwertete, die er bisher erhoben hatte. Seine bahnbrechenden Studien über Marko schienen jetzt ungewollt zu einem krankhaften Experiment zu gehören, das bedeutender war als die »linguistischen Schwellen«, die »nicht-hündischen Zonen proximaler Entwicklung« und die »zwingende Menschlichkeit« seiner veröffentlichten Arbeiten und weit darüber hinausging, die letzten Überreste des Glaubens an Homo ferus im 21. Jahrhundert als falsch zu entlarven.
Er hatte das Gefühl, als wäre er, Dimitri, nur eine Figur in einem gewaltigen Spiel gewesen, als wäre er irgendwie getäuscht worden. Nicht von Marko. Und auch nicht von Romotschka. Er blieb stehen und erinnerte sich an das seltsame Verhalten dieses Jungen. Romotschka, ein wild lebendes Stadtkind, hatte sich bewusst und mit vollendetem Geschick verstellt. Dieser Junge war intelligent. Begabt. Aber Dimitri fühlte sich nicht von Romotschka getäuscht. Er spürte etwas Größeres, eine umfassendere Blindheit, dieihn zum Gespött eines anderen machte. Er lief weiter. Aber von wem? Ihm selbst? Gott? Seinesgleichen? Seines Fachs, seiner Wissenschaft? Rätselhafter Kinder? Er verzog das Gesicht, während seine Stiefel immerfort in sein Blickfeld traten und wieder daraus verschwanden. Wolfskinder, einst so selten, dass man sie als mythische Gestalten betrachtete, hatten in Moskau das Ausmaß einer Plage angenommen. Hunde, die Kinder bei sich aufnehmen wollten, konnten unter Millionen von Obdachlosen wählen.
Er blieb einen Augenblick stehen. Was, wenn es wirklich nichts Neues war? Wie viele der besprizorniki aus den schrecklichen 1920er Jahren – dieser zügellosen, alles verschlingenden Horden obdachloser Kinder – hatten bei Hunden gelebt? Sich ihnen zu gegenseitigem Nutzen angeschlossen – war das nicht sogar sehr wahrscheinlich?
Er lachte verbittert. Nataljas Schülerinnentagebuch über Romotschka war ein nützlicheres Hilfsmittel als all seine sorgfältigen Forschungen. Sie konnten eine Arbeit vorlegen, in welcher der mitbeteiligte Forscher als der »verfluchte Dimitri« oder der »liebe alte DPP « bezeichnet wurde. Das Ganze würde zu einem Politikum werden und konnte das Ende des Zentrums bedeuten. Doch dieser Situation mussten sie sich stellen. Nataljas Ansichten waren eigenwillig, doch ihre Beobachtungen waren detailliert. Sie mussten ihre Tagebücher sorgfältig durchgehen und alles verwerten, das sich umschreiben ließ. Wenigstens hatte auch Natalja das Ganze trotz
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