Dohlenflug
Tür flog auf, und
eiskalte Luft strömte ihnen entgegen.
In derselben Sekunde war das
Geräusch vom Skistockeinsatz hinter ihnen verstummt.
»Wahrscheinlich
beobachtet er uns und will schießen!«, rief Hohenauer und
duckte sich instinktiv. »Rein in den Stollen, Mandi-Tant!«
Zwei Schüsse knallten.
Die Gendarmerieschülerin schubste die Greisin durchs Tor, einen
Wimpernschlag später warf Kotek die Tür ins Schloss und sperrte
ab. Keine Sekunde zu früh. Schon wurde von draußen an der stählernen
Klinke gerüttelt.
»Wir müssen
weiter, los«, flüsterte Kotek und ließ eine Taschenlampe
aufflammen. »Gehen Sie, Frau Häuslschmied, so gehen Sie doch.
Wegener hat das Schloss in fünf Minuten geöffnet. Ich hab den
Schlüssel stecken lassen, aber auch das wird ihn nicht viel länger
hinhalten.«
Am Stollenboden verliefen
schmale Grubengleise, und weiter vorn war ein abgestellter Grubenhund zu
sehen.
»Vorläufig geht es
ohnehin nur geradeaus, etwa eineinhalb Kilometer«, erklärte die
Alte, die bereits voranschritt. »Dann kreuzt der Imhof-Stollen zunächst
die Zubringer zum Geisslergang, später den Dyonis- und schließlich
den Kuppelwiesergang. Vom Geisslergang gehen bald nach der Kreuzung zu
beiden Seiten einige Schächte und Fahrten weg auf andere Horizonte.
Wenn wir es bis dorthin schaffen, haben wir schon bessere Karten. Wer sich
nämlich nicht verdammt gut auskennt oder wenigstens anhand von Plänen
orientieren kann, wird vom Schall garantiert in die Irre geführt,
denn das Kolmkar-Massiv ist durchlöchert wie der sprichwörtliche
Schweizer Käse.«
»Aber mit diesem Waggon
kann er uns nicht auf den Pelz rücken, oder?«, fragte Kotek, während
sie das Gefährt passierten.
»Nein, das ist keine
Draisine, sondern ein ausrangierter Grubenhund, der hier nur zu
Demonstrationszwecken steht.«
»Aha.« Kotek
holte eben die zweite Stablampe aus ihrem Rucksack und wollte sie der jüngeren
Kollegin reichen. »Hier, die andere Lampe.« Sie tippte ihr
damit leicht auf die rechte Schulter.
Hohenauer stieß einen
spitzen Schrei aus. Wie angewurzelt blieben ihre Begleiterinnen stehen,
Kotek leuchtete das Mädchen an und sah in sein schmerzverzerrtes
Gesicht. Dann trat sie einen Schritt zurück und bemerkte das Loch in
der Rückseite von Hohenauers Anorak.
»Verdammt! Er hat Sie
getroffen?« Es war eigentlich keine Frage.
»Ist nicht so schlimm,
nur ein Steckschuss in der Schulter«, versuchte Hohenauer die
Katastrophe herunterzuspielen.
Kotek öffnete sofort den
Rucksack und entnahm ihm Verbandszeug. »Wird ziemlich wehtun, aber
ich muss die Wunde wenigstens notdürftig desinfizieren und die
Blutung stillen. Später machen wir dann einen ordentlichen
Druckverband.« Sie wollte Hohenauer den Anorak ausziehen, aber diese
wehrte ab.
»Nein, wir müssen
jetzt weiter, die Desinfektion und der Verband haben bis später Zeit.
Sie hören doch, dass er schon dabei ist, das Türschloss zu
knacken.«
Tatsächlich hörten
sie, wie sich jemand am Tor zu schaffen machte, obwohl sie bereits etliche
Meter zwischen sich und den Eingang gebracht hatten. Wider besseres Wissen
fügte sich Kotek dem Wunsch der Verwundeten.
»Lassen Sie mich
wenigstens die Mullbinde mit Jodtinktur auf Ihre Schulter legen«,
sagte sie, wobei sie sich ihrer rapide sinkenden Chancen, Wegener zu
entkommen, nur allzu bewusst war. Hohenauer presste die Lippen zusammen
und verkniff sich tapfer jeden Schmerzenslaut, als ihr Kotek den
Verbandsmull auf die Einschusswunde legte und ihn mit Leukoplast fixierte.
»Tja, damit können
wir uns wohl abschminken, ihn für längere Zeit auf Distanz zu
halten«, sagte Häuslschmied. »Also müssen wir eine
andere Möglichkeit ins Auge fassen.«
Wieder machten sie sich auf
den Weg: die Greisin mit der zweiten Stablampe eilig voraus, dann ihre Großnichte,
die sich mit großer Selbstbeherrschung auf den Beinen hielt, und
hinter ihr Kotek, die immer darauf gefasst war, die vor ihr
dahinstolpernde Hohenauer auffangen zu müssen.
43
NACH ETWAS MEHR als einem
halben Kilometer spürten sie den stärker werdenden Luftzug.
Wegener hatte die Tür also geöffnet.
Kotek schalt sich eine
Idiotin. Was hatte sie denn erwartet? Schließlich war der Mann seit
Jahren Kriminaltechniker und hatte alle Kniffe drauf. Ein simples
dosisches Schloss konnte er im Schlaf knacken. Liebend gern hätte
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