Dohlenflug
Wuschzn-Charly ein Trinker und
Spieler. Jeden Schilling, den er verdient hatte, trug er ins Casino oder
jagte ihn sich in flüssiger Form durch die Gurgel. Lotte und ihre um
drei Jahre jüngere Schwester Stefanie durchlebten eine miserable
Kindheit. Ihre Mutter Veronika verließ die Familie an Stefanies
drittem Geburtstag nach wiederholten Selbstmordversuchen. Die Mädchen
waren danach meistens sich selbst überlassen und kamen oft so
abgerissen und abgemagert daher, dass sich der Sozialdienst der Kommune
ihrer annahm. Man schoss die Ausgaben für Essen aus dem Seniorenheim
vor, ebenso für Kindergarten und Schule, wohl wissend, dass dieses
Geld nie wieder einzutreiben sein würde. Die schwachen Leistungen und
die Verhaltensauffälligkeit beider Mädchen in der Schule nährten
die Vermutungen des sexuellen Missbrauchs durch den Vater. Nach einigen
anonymen Anzeigen ging die Gendarmerie diesen sogar nach, aber Beweise
wurden nie erbracht.
Kurz vor Heinrichs Flucht
kursierte noch ein weiteres Gerücht: Er hätte eine nicht unbeträchtliche
Erbschaft in Form von Grundstücken gemacht. Doch anstatt seinen
Kindern nun endlich ein menschenwürdiges Dasein zu bieten, hätte
er die Grundstücke beziehungsweise den Erlös aus deren Verkauf
innerhalb weniger Tage verzockt und versoffen und dabei noch eine Menge
Schulden angehäuft. Die Schwangerschaft der damals sechzehnjährigen
Lotte passte wie das letzte Steinchen in das bunte Mosaik wildester
Spekulationen. Schon kurz nach der Geburt ihrer Tochter Julie – Karl
Heinrich hatte sich inzwischen aus dem Staub gemacht – ließ
Lotte einen notariell beglaubigten Vaterschaftstest veröffentlichen,
der wenigstens das hässlichste Gerücht entkräften sollte,
dass Julie vom eigenen Großvater gezeugt worden sei. Von der
naheliegenden Möglichkeit, den wahren Vater zu nennen, machte Lotte
hingegen keinen Gebrauch.
Zwischen Luggau und
Dorfgastein zweigt ein nicht asphaltierter Güterweg von der
Bundesstraße zum Präauer-Gut nach links ab. Er führt auf
einer verwitterten Holzbrücke über die Gasteiner Ache und nur
wenige Meter danach über die zweigleisige beschrankte
Tauernbahntrasse. Unmittelbar hinter der Trasse kreuzt die parallel zur
Bahn verlaufende Luggauer Straße den Weg. In eben diese Straße
lenkte Feuersang nach links ein und fuhr einige hundert Meter in
entgegengesetzter Richtung als zuvor auf der Bundesstraße, ehe er
schließlich nach rechts zum Heinrich-Anwesen einbog.
An den Außenwänden
des zweigeschossigen Blockhauses waren skurrile Tierpräparate und
Schnitzereien angebracht. Unter dem Firstbalken saß auf einem
Rundholz ein zahmer Rabe, der von den Neuankömmlingen kaum Notiz
nahm. Der ebenfalls mit Ornamenten versehene und bizarr gestaltete Brunnen
vor dem Haus sollte wohl eine Art Waldschrat, Gnom oder Troll darstellen.
Etliche Meter links davon entfernt stand eine etwa drei Meter hohe
Silbertanne, in deren Zweige jemand einige Rosenknospen gesteckt hatte.
Das seltsame Heim der Bachblüten-Lotte
fesselte die Aufmerksamkeit der Ermittler allerdings weniger als die drei
Pkws, die davor parkten. Einer davon war ein dunkelblauer Range Rover
TDV8. Ein zweiter, ein Mercedes E 500 älteren Baujahrs, hatte sich
eben in Bewegung gesetzt und kam ihnen entgegen. Feuersang fuhr mitten auf
der schmalen Straße und zwang sein Gegenüber so zum Anhalten.
Um von vornherein keinen Stress aufkommen zu lassen, setzte er das
Blaulicht aufs Dach des Dienstwagens und stieg aus, obwohl es inzwischen
stark zu regnen begonnen hatte.
Der Fahrer des Mercedes ließ
ein Fenster herunter. »Was gibt’s? Ich hab’s eilig.«
»Sie werden sich leider
ein wenig gedulden müssen, Kollege. Sie sind doch Herr Paul
Marageter, ehemals Gendarmerierevierinspektor aus Bad Gastein, oder?«
Paul Marageter, ein etwa
vierzigjähriger, dunkelhaariger Mann, mittelgroß, mit unauffälligen
Gesichtszügen, blau-weiß kariertem Hemd und handgestrickter
Zopfmusterjacke, nickte achselzuckend. »Ja, der bin ich. Und? Was
liegt an?«
»Das wissen Sie doch,
Herr Marageter. Entweder begleiten Sie uns jetzt zurück zu Frau
Heinrich und Herrn Regenmandl, mit denen Sie sich eben getroffen haben,
oder Sie besuchen uns später«, er blickte auf seine Armbanduhr.
»Sagen wir, um sechzehn Uhr am Posten Hofgastein. Was ist Ihnen
lieber?«
Anstelle einer Antwort setzte
Marageter den
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