Dohlenflug
wütend, aber ihre Augen waren blank vor Entsetzen. War der
Grund dafür Furcht vor Entdeckung, Angst um die Tochter oder beides?
Kotek wechselte einen Blick mit dem Kollegen. Sollte man jetzt härtere
Bandagen anlegen? Feuersang wiegte verneinend den Kopf.
»Frau Heinrich«,
fuhr sie wieder sanfter fort, »mit Ihren Falschaussagen bringen Sie
nicht nur sich selbst in Schwierigkeiten, sondern auch Ihre Freunde, Frau
Schleißheimer und Herrn Regenmandl. Aber vor allem reiten sie Julie
immer tiefer in die Bredouille, statt ihr zu helfen. Sie können Ihre
Tochter doch jetzt nicht mit dieser Belastung allein lassen. Egal, ob sie
Täterin oder nur Zeugin ist.«
Lotte Heinrichs Augen
schwammen in Tränen. Sie stand kurz vor dem Zusammenbruch, aber die
Mutterliebe und der Impuls, die Tochter zu schützen, waren noch stärker.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe doch schon all ihre
Freundinnen angerufen. Keiner hat sie gesehen.«
»Und Chrissie?«,
fragte Feuersang.
»Chr… Chrissie?«,
stotterte sie. Ihre Hände zitterten, und ihre Stirn war nass vom
Schweiß, so als würde sie gleich kollabieren.
»Wir unterbrechen die
Vernehmung um fünfzehn Uhr dreißig«, sagte Kotek mit
einem bezeichnenden Blick auf Lotte Heinrichs zitternde Hände und
schaltete den Rekorder aus.
»Haben Sie etwas gegen
Ihr Nervenflattern in Ihrer Hausapotheke, Frau Heinrich? Gehen Sie nur.
Wir werden inzwischen Frau Schleißheimer anrufen. Ich bin schon
gespannt, wie sie Ihre Aussage aufnimmt.«
Trotz Kreislaufschwäche
bildeten sich hektische rote Flecken auf Lotte Heinrichs Wangen, und
obwohl sie wie eine Ladendiebin wirkte, die beim Klauen ertappt worden
war, zuckte sie nur stumm mit den Achseln und ging in die Praxis hinüber.
Salma Schleißheimer
nahm schon nach dem ersten Rufton ab.
»Hallo, Frau Schleißheimer,
ich bin’s noch mal, Melanie Kotek vom LGK. Leider hat Ihre Freundin
Lotte Heinrich Ihr Alibi vom Samstagnachmittag nicht bestätigt«,
fiel Kotek mit der Tür ins Haus. »Vielmehr behauptet sie, um
die fragliche Zeit mit ihrer Tochter Julie und Herrn Regenmandl bei sich
zu Hause gewesen zu sein.«
»Was? Das glaub ich
jetzt nicht. Lassen Sie mich selbst mit ihr sprechen!«
»Gern. Einen
Augenblick, bitte. Frau Heinrich, Salma Schleißheimer ist am
Apparat.« Kotek stellte auf maximale Lautstärke.
Die Angesprochene war eben
aus ihrem Behandlungszimmer zurückgekommen. In der einen Hand hielt
sie ein Wasserglas, in der anderen ein braunes Fläschchen mit ihrem
berühmten Bachblütenextrakt, über dessen beruhigende
Wirkung man sich Wunderdinge erzählte.
Lotte Heinrich schien sich
tatsächlich etwas erholt zu haben, nahm das Handy aber nur
widerstrebend entgegen. »Hallo, Salli.«
»Lotte, sag mal,
spinnst du jetzt total? Erst zitierst du mich am Samstagnachmittag händeringend
in dein Hexenhäuschen, bekniest mich, Fredl wegen Paulis Kredit
weichzuklopfen, und dann leugnest du, dass ich um vier Uhr bei dir gewesen
bin!« Salma Schleißheimers Stimme bebte vor Zorn.
»Salli, ich kann
wirklich verstehen, dass du ein Alibi brauchst«, sagte Lotte
Heinrich beschwichtigend, »aber ich muss auch Rücksicht auf
Julie nehmen, die nun mal den ganzen Samstagnachmittag bei mir zu Hause
war. Übrigens hat sich auch Johnny von halb vier bis vier seine
Schulter behandeln lassen. Und wenn du nicht plötzlich an Gedächtnisschwund
leidest, musst du zugeben, dass die Besprechung wegen Paulis Kredit schon
eine Woche früher stattgefunden hat.«
Das war deutlich, dachte
Kotek. Übersetzt hieß das: Besorg dir gefälligst ein
anderes Alibi, meine Tochter braucht ihres dringender als du deins.
Aber Salma Schleißheimer
dachte nicht im Traum daran, sich so abspeisen zu lassen: »So gehst
du nicht mit mir um, Lotte! Mit mir nicht! Mir ist klar, dass du für
deine Tochter lügst. Keine Frage, ich würde es genauso machen.
Deshalb habe ich unser Treffen zunächst auch verschwiegen. Hat ja mit
Fredls Tod nichts zu tun. Aber die Kripo, die neben dir steht, hat mir
heut Vormittag das Messer auf die Brust gesetzt, und wenn es hart auf hart
kommt, ist mir mein Alibi wichtiger als die Loyalität zu einer
Jugendfreundin, das sage ich dir klipp und klar! Außerdem habe ich
einen unschlagbaren Vorteil auf meiner Seite: Im Gegensatz zu dir sage ich
die Wahrheit!«
»Du kannst von mir aus
aussagen, was du willst.
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