Dohlenflug
auch im Laderdinger Alpl die Augen offen zu halten, bis eure
Leute da sind. Und noch was: Schickt bitte sofort einen Kollegen zu Frau
Heinrich. Er soll bei ihr warten, bis die Spusi eingetroffen ist.«
Kotek vermied es, im Beisein
Lotte Heinrichs zu sagen, man solle nicht nur nach der lebenden Julie
Ausschau halten. An Feuersang gewandt, meinte sie bedauernd: »Wird
wohl wieder nichts mit Essen. Oder was soll ich Oskar sagen, warum wir die
neuerliche Vernehmung der Schleißheimer auf die lange Bank geschoben
haben? Weil du Hunger hattest?«
Feuersang schnitt eine
Grimasse, während Kotek bereits Stubenvoll anrief, ihn über den
Stand der Dinge informierte und zur Eile antrieb. »Ihr werdet im
Haus von Frau Heinrich benötigt. Dringend. Leo und ich müssen
noch einmal zu Salma Schleißheimer, und das, obwohl mir Leo schon
vor Kohldampf vergeht. Wir haben seit heute Morgen nichts mehr zwischen
die Zähne bekommen.«
»Ach, Gott, wie grausam«,
spottete Stubenvoll. »Als ob dem alten Fresssack das bisschen Fasten
nicht guttäte. Wir von der Spusi dürfen uns jeden Tag zerfransen
und sollen am besten überall gleichzeitig sein. Ich hab schon zwei
Leute für die Regenmandl-Villa abgestellt, dann schicke ich die eben
weiter nach Luggau. Hier oben sind nur noch Werner und ich. Aber eins sag
ich dir: Von jetzt an kann ich niemanden mehr entbehren, wir sind doch
insgesamt nur zu viert.«
»Nachdem du schon
wieder eine so dicke Lippe riskierst, muss deine Genesung seit gestern ja
mit großen Schritten voranschreiten«, spottete Feuersang, der
mitgehört hatte.
»Du sagst es. War doch
nur so ein Dusel, der mich irgendwo erwischt hat. Mir ist zwar immer noch
ein bisschen mulmig, aber ich denke, das Schlimmste ist vorbei. Dafür
sieht Werner jetzt aus wie gekotzte Eierspeise.«
»Okay, Oliver, ich will
gar nicht mehr hören. Bis gleich.« Kotek legte auf.
12
SALMA SCHLEISSHEIMER
erwartete die Kriminalbeamten bereits an der Haustür.
»Chrissie hat von sich
aus gesagt, sie möchte mit Ihnen sprechen«, erklärte sie.
Die Verwunderung über die Bereitwilligkeit ihrer Tochter stand ihr
ins Gesicht geschrieben.
Kotek und Feuersang tauschten
kurz einen Blick aus. »Kann ich währenddessen mit Ihnen oben im
Büro reden?«, fragte Feuersang. »Ihre Tochter muss ja
nicht alles mitanhören – in ihrem Zustand.«
Salma Schleißheimer
nickte. Sie führte die Besucher zunächst ins Wohnzimmer und ging
dann mit Feuersang über die Freitreppe nach oben ins Büro. Am
Wohnzimmertisch in einem Fauteuil saß ein etwa vierzehnjähriges
rotblondes Mädchen. Es hielt sich so kerzengerade, als hätte es
einen Stock verschluckt. Auch die Sommersprossen konnten nicht kaschieren,
wie blass und blutleer sein Gesicht war.
Melanie Kotek ging zu
Chrissie, nahm ihre Hand und sagte mit viel Mitgefühl in der Stimme:
»Mein Beileid.«
»Danke. Woll…
wollen Sie sich nicht setzen?«
»Gern.« Kotek
nahm Platz, wobei sie amüsiert die guten Manieren des Mädchens
registrierte.
Aber was hatte sie denn
erwartet? Eine verhaltensgestörte, aggressive Göre?
Sie ließ sich Zeit, hütete
sich, mit der Tür ins Haus zu fallen. Ehe das Schweigen peinlich zu
werden drohte, begann sie behutsam. »Chrissie, uns allen ist klar,
dass es für ein Kind nichts Schrecklicheres gibt, als einen
Elternteil zu verlieren. Niemand kann dir diesen Schmerz abnehmen. Aber du
bist damit nicht allein. Deine Mutter ist bei dir. Sie wird dir in der
ersten schlimmen Zeit beistehen.«
»Ach ja? Wird sie das?«,
sagte das Mädchen leise, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
»Natürlich wird
sie, Chrissie«, zog Kotek geistesgegenwärtig den Fuß
wieder aus dem Fettnäpfchen, in das sie augenscheinlich getreten war.
»Es stimmt schon, nicht jede Mutter ist eine Glucke, aber wenn es
ihren Kindern wirklich schlecht geht, dann sind Mütter zur Stelle
– auch jene, die sich im Alltag vielleicht kein Bein für sie
ausreißen.« Verärgert über den unnötigen Patzer
hoffte sie, nun den richtigen Ton für die traumatisierte Jugendliche
getroffen zu haben.
»Ich hab mir immer gewünscht,
dass Mam ein bisschen wie eine Glucke ist«, knüpfte Chrissie an
den Vergleich an. »Oder wenigstens wie Oma. Ich habe die Mitschülerinnen
nie verstehen können, die ständig über ihre besorgten Mütter
motzen, die sie nicht so lassen, wie sie
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