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Doktor Pascal - 20

Doktor Pascal - 20

Titel: Doktor Pascal - 20 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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die alten Fouans, die ihre Felder hergaben, als wär˜s ein Stück vom eigenen Fleisch, Geierkopf und seine Frau, die bis zum Vatermord gingen, um schneller ein Luzernefeld zu erben; die starrköpfige Françoise, die in eine Sense stürzte und noch im Sterben kein Wort sagte, damit der Familie keine Erdscholle verlorenging; dies ganze Drama der Einfachen und Triebhaften, die sich noch kaum aus dem alten Naturzustand gelöst haben, der ganze menschliche Schmutz auf der großen Erde, die allein die Unsterbliche bleibt, die Mutter, aus der wir kommen und in die wir wieder eingehen, sie, die man liebt bis zum Verbrechen, die ständig zu ihrem unbekannten Zwecke neues Leben schafft, selbst mit unseren Schandtaten und unserem Elend. Und es war wiederum Jean, der, Witwer geworden, sich beim ersten Kriegslärm erneut zum Militärdienst meldete und die unerschöpfliche Reserve mitbrachte, den Fundus ewiger Verjüngung, den die Erde in sich birgt; Jean, der geringste, der standhafteste Soldat des völligen Zusammenbruchs, mit fortgewirbelt in dem entsetzlichen, verhängnisvollen Sturm, der von der Grenze bei Sedan her, das Kaiserreich hinwegfegend, zugleich das Vaterland mitzureißen drohte; Jean, der immer Besonnene, Vorsichtige, in seiner Hoffnung Unerschütterliche, der mit brüderlicher Liebe seinen Kameraden Maurice liebte, den nervlich zerrütteten Sohn der Bourgeoisie, das für die Sühne bestimmte Opfer; Jean, der blutige Tränen weinte, als das unerbittliche Schicksal ihn selber dazu ausersah, dieses untaugliche Glied abzuschlagen, und der dann, nachdem alles zu Ende war, nach den fortwährenden Niederlagen, dem grauenvollen Bürgerkrieg, dem Verlust der Provinzen, den zu zahlenden Milliarden, sich wieder auf den Weg machte, zur Scholle zurückkehrte, die seiner harrte, zur großen und harten Arbeit, ein ganzes Frankreich neu zu schaffen.
    Pascal hielt inne; Clotilde hatte ihm Stück für Stück alle Akten gereicht, und er hatte sie alle durchgeblättert, überprüft, wieder eingeordnet und auf das oberste Brett in den Schrank zurückgestellt. Er war außer Atem, erschöpft von dem gewaltigen Wehen, das durch diese lebendige Menschheit fuhr, während das junge Mädchen stumm, regungslos, betäubt von diesem überquellenden Lebensstrom, noch immer wartete, keiner Überlegung und keines Urteils fähig. Das Gewitter ließ immer weiter seinen endlos rauschenden Platzregen auf das dunkle Land herniederprasseln. Ein Blitzschlag hatte soeben mit furchtbarem Krachen einen Baum in der Nachbarschaft zerschmettert. Die Kerzen flackerten wild im Wind, der durch das weit geöffnete Fenster hereinwehte.
    »Ach«, begann er wieder und wies abermals auf die Akten, »das ist eine ganze Welt, eine Gesellschaft und eine Zivilisation, das ganze Leben ist darin enthalten mit seinen guten und schlechten Trieben, geschmolzen und geformt wie im Feuer einer Schmiede … Ja, unsere Familie könnte heute der Wissenschaft als Beispiel dienen, der Wissenschaft, deren Hoffnung es ist, eines Tages mit mathematischer Exaktheit die Gesetze der Wechselfälle der Nerven und des Blutes zu formulieren, die in einer Rasse als Folge einer ersten organischen Schädigung zutage treten und die je nach dem Milieu bei jedem Individuum dieser Rasse die Gefühle, die Triebe, die Leidenschaften, alle menschlichen Äußerungen, alle natürlichen und instinktiven, erzeugen, deren Produkte den Namen von Tugenden oder Lastern annehmen. Zugleich ist unsere Familie ein historisches Zeugnis, sie erzählt die Geschichte des Zweiten Kaiserreiches vom Staatsstreich bis Sedan; die Unseren sind aus dem Volk hervorgegangen, haben sich in der ganzen gegenwärtigen Gesellschaft verbreitet und sind in alle Stände eingedrungen, fortgerissen vom Übermaß der Begierden, von jenem wahrhaft modernen Drang, jenem Peitschenhieb, der die niederen Klassen quer durch alle sozialen Schichtungen den Genüssen zutreibt … Die Ursprünge habe ich dir genannt: sie nahmen in Plassans ihren Ausgang; und wir sind nun wieder hier in Plassans angelangt.«
    Er unterbrach sich erneut und sprach dann wie träumend langsam weiter.
    »Welch entsetzliche Masse ist da in Bewegung gesetzt, wie viele schöne und schreckliche Abenteuer, wie viele Freuden, wie viele ungeahnte Leiden in dieser gewaltigen Anhäufung von Tatsachen! … Da ist ein Stück reine Geschichte, das im Blut gegründete Kaiserreich, im Genuß schwelgend zunächst und streng autoritär; es erobert die rebellischen Städte, fällt dann

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