Doktor Proktors Pupspulver
Note lesen? Oder wenigstens einen richtigen Ton spielen?«
Als sie die Blicke der anderen auf sich spürte, machte Lise sich hinter ihrer Klarinette ganz klein. Sie wusste nämlich, was diese Blicke sagten. Sie sagten, auch wenn Madsen sagte, dass sie gut spielte, sollte sie bloß nicht glauben, irgendwer wollte ihr Freund sein. Eher im Gegenteil.
»Wenn wir bis zum 17. Mai nicht deutlich besser werden, müssen wir die Teilnahme am Blaskapellentreffen im Sommer absagen«, sagte Madsen. »Ich habe keine Lust, mich vor Dutzenden anderer Blaskapellendirigenten zum Gespött zu machen, verstanden?«
Das musste ein Schock für die Gesichter vor ihm sein, denn er sah, wie sie auf einmal alle die Münder aufsperrten. Er hatte so aufgeregt und begeistert über das große Blaskapellentreffen in Eidsvoll gesprochen und sie hatten sich schon so darauf gefreut. Aber er sah keinen anderen Ausweg mehr, als abzusagen. Das hatte er von Anfang an klar gesagt. Er hatte gesagt, dass man bei ihm, Nikolai Amadeus Madsen, nicht spielen durfte wie eine Horde wilder Janitscharen. Wenn also kein Wunder geschah, würde niemand in Eidsvoll auch nur einen Triangelton von dieser Schulkapelle hören. Und da Madsens Taktstock leider kein Zauberstab war, würde wohl auch kein Wunder geschehen.
»Noch mal vom Anfang«, seufzte Madsen und hob den Taktstock. »Bereit?«
Aber sie waren alles andere als bereit. Sie starrten nämlich alle miteinander mit offenen Mündern auf die Tür zur Garderobe, die sich genau in Madsens Rücken befand. Verärgert drehte er sich um, sah aber niemanden. Also drehte er sich wieder zu seiner Blaskapelle und wollte gerade anfangen, den Takt vorzuzählen, da fiel seinem Gehirn auf, dass er doch etwas in der Türöffnung gesehen hatte. Und zwar weiter unten, in der Nähe des Bodens. Er drehte sich abermals um, nahm die Sonnenbrille ab und erblickte einen winzig kleinen Jungen mit rotem Haarschopf.
»Was willst du denn hier?«, fragte Madsen ungnädig.
»Wollen Sie nicht erst fragen, wer ich bin?«, fragte der Junge und hielt eine alte, verbeulte Trompete hoch. »Ich bin Bulle. Ich kann Trompete spielen.«
»Wir haben schon zwei Trompeter«, sagte Madsen und drehte sich wieder zur Kapelle. »Wir proben gerade. Sieh zu, dass du wegkommst.«
»Wollen Sie mich gar nicht erst mal spielen hören?«
»Nein!«
»Nur ein bisschen...« Bulle hob die Trompete und spitzte die Lippen zu einem Kussmund.
»Nein! Nein! Nein!«, brüllte Madsen mit tiefrotem Gesicht. Er peitschte mit seinem Taktstock durch die Luft. »Ich bin ein Künstler!«, rief er. »Ich habe Märsche für das große Festival der Janitscharenkapellen in Venedig arrangiert! Und jetzt dirigiere ich eine Schulkapelle aus stockunmusikalischen Drecksgören, da brauche ich nicht noch ein weiteres stockunmusikalisches Drecksgör, verstehst du? Raaaaus!«
»Hm«, sagte Bulle. »Das klang wie der Ton A. Ich habe das absolute Gehör. Kontrollieren Sie es ruhig mit Ihrer Stimmgabel nach.«
»Du bist wohl nicht nur unmusikalisch, sondern auch noch taub!« Madsen zitterte und spuckte vor Erregung. »Mach die Tür hinter dir zu und lass dich nie wieder hier blicken! Du denkst doch wohl selbst nicht, irgendeine Kapelle kann etwas anfangen mit einem Knirps, der so klein ist, dass... dass...«
»Dass nicht mal für den Streifen auf der Seite von sei- ner Uniformhose Platz ist«, sagte Bulle. »So kurz, dass die Medaillen auf dem Boden schleifen würden. So winzig, dass er nicht mal auf den Notenständer schauen kann. Und dass die Uniformmütze ihm über die Augen rutschen würde.«
Bulle lächelte Madsen unschuldig an, der jetzt mit langen Schritten auf ihn zukam.
»Dass er nicht sehen würde, wo er hingeht«, fuhr Bulle fort. »Und auf einmal bei der Festung Akershus landen würde, während der Rest der Kapelle zum Schloss marschiert.«
»Genau«, sagte Madsen, griff die Tür und warf sie ins Schloss, direkt vor Bulles Gesicht. Dann trampelte er zurück zu seinem Notenständer. Ihm fiel noch das breite Grinsen von Truls und Trym auf, dann hob er den Taktstock. »Also«, sagte Madsen. »Ja, wir lieben...«
7 . Kapite l
In dieser Nacht, in de r Kanalisation unter Osl o
n den Abwasserkanälen, die kreuz und quer unter Oslo verlaufen, leben große Tiere. Sie sind so groß, dass du ihnen ganz sicher nicht über den Weg laufen willst. Aber wenn du in den Straßen von Oslo einen Kanaldeckel hochhebst und mit einer Taschenlampe in die Abwasserwelt hinunterleuchtest,
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