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Doktor Proktors Zeitbadewanne

Doktor Proktors Zeitbadewanne

Titel: Doktor Proktors Zeitbadewanne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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unverschlossen war, denn der Raum dahinter schien völlig leer zu sein. Das Seltsame aber waren die Geräusche hier un- ten. Wie ein ganzes Orchester aus Schmatzen, Schlürfen und Saugen, als säßen ungefähr hundert unsichtbare Bayern hier und fräßen Sauerkraut mit Würstchen. Und der Geruch war wie...wie rohes Fleisch und alte Socken. In dem Moment schrie Lise auf. Etwas Kaltes, schleimig Feuchtes hatte ihren Nacken gestreift. Sie trat ein paar Schritte in den Raum hinein und sah sich um.
    Mittlerweile hatten ihre Augen sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie etwas an den Wänden erkennen konnte... etwas, das sich bewegte und mit langen, fetten Fühlern winkte. Und nicht nur hier und da war dieses Etwas, sondern... überall und die Geräusche kamen von überall, die Wände schienen zu leben!
    Während sie noch schreckensstarr dastand, glitt die Kellertür auf – und gegen das Tageslicht zeichnete sich die Gestalt ihrer Verfolgerin ab.
    »Hallo, Lise«, sagte die Frau, schloss die Tür hinter sich und betätigte einen Lichtschalter. Es wurde hell. Lise sah sich um und wäre am liebsten ohnmächtig geworden.
    »Warum so blass?«, fragte die Frau und kam auf Lise zu. »Wegen der Riesenschnecken an den Wänden? Die sind nicht weiter gefährlich, die werden hier unten nur gemästet. Wenn sie fett genug sind, werden sie im Restaurant oben drüber zubereitet. In diesem Land gelten Schnecken als Delikatesse.«

    »Wie bitte?« Mehr konnte Lise nicht sagen, denn die Frau war so nah gekommen, dass sie ihr Gesicht erkennen konnte. Nicht nur erkennen übrigens, nein – wiedererkennen.
    »Na, Lise«, sagte die Frau. »Du fragst dich vielleicht, wovon diese Schnecken hier leben?«
    »Wo. . . wovon denn?«, fragte Lise und spürte, dass ihre Zähne zu klappern anfangen wollten.
    Die Frau lachte leise. »Von Kräutern. Und Salat. Solchen Sachen. Was hast du denn gedacht?«
    Lise atmete erleichtert auf.
    »Ich bin . . .«, fing die Frau an.
    »Ich weiß jetzt, wer Sie sind«, sagte Lise.
    »Ach ja?«, fragte die Frau, sichtlich erstaunt.
    »Ja, ich habe Sie auf Fotos gesehen. Bei Doktor Proktor. Sie sitzen im Beiwagen seines Motorrads. Sie sind die große Liebe des Doktors. Sie sind Juliette Margarine.«
    Die Frau lächelte breit. »Beeindruckend. Und du hast mich sofort wiedererkannt?«
    Lise lächelte. »Nein, erst hielt ich Sie für Jeanne d’Arc.«
    »Für Jeanne d’Arc?«, fragte Juliette Margarine verblüfft. »Unsere Nationalheldin?«
    Lise lachte. »Wir haben in unserem Geschichtsbuch ein Bild von Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen und ich fand, Sie sehen ihr ähnlich.«
    »Danke für das Kompliment, Lise«, sagte Juliette in ihrem Norwegisch mit französischem Akzent und griff sich in ihr rotbraun gelocktes Haar. »Wir haben vielleicht ähnliches Haar, aber leider bin ich keine tapfere Heldin. Nur Juliette Margarine.«
    »Und woher wissen Sie, dass ich Lise heiße?«
    »Viktor hat mir von Bulle und dir erzählt«, sagte Juliette.
    »Viktor?«
    »Doktor Proktor.«
    »Doktor Viktor Proktor?« Lise hatte nie daran gedacht, dass Doktor Proktor wie andere Menschen auch einen Vornamen haben musste.
    Juliette lächelte: »Außerdem habe ich seine Karte an dich abgeschickt. Seitdem beobachte ich die Pension und warte darauf, dass ihr kommt. Du ahnst nicht, wie ich mich gefreut habe, als ich dich heute früh dort habe herauskommen sehen. Endlich sind sie hier!, dachte ich.«
    »Aber... aber warum sind Sie nicht einfach in die Pension gekommen, sondern haben mich heimlich verfolgt? Und wo ist Doktor Proktor? Und warum ist alles derart geheimnisvoll?«
    »Cliché«, sagte Juliette.
    »Häh?«
    Juliette seufzte. »Die Antwort auf die meisten deiner Fragen ist Cliché. Claude Cliché, ein leider ziemlich böser Mann. Aber das ist eine lange Geschichte und du siehst ganz schön verhungert aus. Komm, wir setzen uns auf ein Croissant und einen Café au Lait in ein Café.«
    »Gern!« Schaudernd sah Lise sich noch einmal um. Auch wenn sie nicht gefährlich sein mochten, war es doch unheimlich, in einem ganz und gar mit Riesenschnecken tapezierten Raum zu sein.
    »Aber«, sagte Juliette, öffnete die Tür, steckte den Kopf hinaus und sah sich wachsam um, »es muss ein Ort sein, an dem wir vor Entdeckung sicher sind.«

6 . Kapite l
Juliette Margarine s Lebensgeschicht e
    uliette Margarine und Lise fanden ein gemütliches Straßencafé in einer stillen Nebenstraße und bestellten Croissants. Drei insgesamt, denn eines

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