Dokument1
entschlossen war, aufs College zu gehen, trotz der unerschütterlichen Meinung ihres Vaters, ein Mädchen würde dort nur zweierlei lernen: wie man rasch seine Jungfernschaft verliert und seinen Glauben. Sie hatte ihr gerüttelt Maß an Tränen vergossen, und wenn ihre eigene Familie zuweilen glaubte, sie wäre zu hart, dann kam es nur daher, weil sie nicht begriffen, daß alles, was nicht tötet, stark macht.
»Weißt du was?« sagte Arnie.
Sie schüttelte den Kopf, sie spürte immer noch das salzige Brennen der Tränen unter den Lidern.
»Wenn ich nicht so müde wäre, daß ich mich kaum auf den Beinen halten kann, müßte ich jetzt lachen. Du hättest dabeisein und mit den Kerlen den Hammer und die Brechstangen schwingen können. Du bist vermutlich glücklicher darüber, als sie es sind.«
»Arnie, das ist nicht fair!«
»Es ist fair!« brüllte er plötzlich los, und seine Augen sprühten ein schreckliches Feuer. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie Angst vor ihrem Sohn. »Es war ja deine Idee, den Wagen aus der Einfahrt zu entfernen! Und seine Idee, ihn am Flughafen abzustellen! Wer, glaubst du, ist schuld? Wer wohl?
Glaubst du, es wäre auch hier in der Einfahrt passiert? He?«
Er machte einen Schritt auf sie zu, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt, und sie mußte ihren ganzen Mut aufwen-den, um nicht vor ihm zurückzuzucken.
»Arnie, können wir nicht darüber reden?« fragte sie. »Wie vernünftige Menschen?«
»Einer von den Kerlen hat auf das Armaturenbrett geschissen«, sagte er mit kalter Stimme. »Wofür hältst du das? Für vernünftig?«
Sie hatte ernsthaft geglaubt, sie habe ihre Tränen unter Kontrolle, aber diese Nachricht - Nachricht einer dummen irrationalen Wut - war zuviel für ihre Nerven. Sie weinte. Sie weinte aus Kummer über das, was ihr Sohn hatte sehen müssen. Sie senkte den Kopf und weinte aus Verwirrung, Schmerz und Angst.
Ihr ganzes Leben lang als Mutter hatte sie sich insgeheim den Frauen ihrer Nachbarschaft überlegen gefühlt, deren Kinder älter waren als Arnie. Als Arnie ein Jahr alt gewesen war, hatten die anderen Mütter ihr gesagt, sie würde es schon noch erleben, wenn er erst fünf sei - dann fingen die Schwierigkeiten erst richtig an, dann wäre er alt genug, in Gegenwart der Großmutter »Scheiße« zu sagen und mit Zündhölzern zu spielen, wenn er allein zu Hause wäre. Aber Arnold, mit einem Jahr so gut wie Gold, war auch mit fünf so gut wie Gold. Und da hatten die anderen Mütter die Augen gerollt und gesagt, warten Sie nur, bis er zehn ist; dann war fünfzehn das Alter, wo es wirklich heikel werden mußte, Drogen und Rock-Konzerte und Mädchen, die ja keinerlei Hemmungen mehr hatten, und - was Gott verhüten möge - Radkappen stehlen und… Krankheiten.
Und bei all diesen Tiraden hatte sie innerlich nur gelächelt, weil sich alles plangemäß entwickelte, genauso, wie sie es als Kind selbst gern gehabt hätte. Ihr Sohn hatte warme, fürsorgli-che Eltern, die ihn liebten, die ihm alles geben würden (in vernünftigen Grenzen), die ihn nur zu gern auf das College seiner Wahl schicken würden (solange es ein gutes College war), und die das Spiel/Geschäft/Verantwortungsbewußtsein der Elternschaft mit Glanz und Gloria bestanden. Hätte man eingewendet, daß Arnie kaum Freunde hatte und oft von anderen verprügelt wurde, hätte sie mit dürren Worten darauf verwiesen, sie hätte eine Konfessionsschule in einer unzivilisierten Nachbarschaft besuchen müssen, wo man zuweilen den Mädchen aus Spaß die baumwollenen Schlüpfer ausgezogen und sie mit Zippo-Feuerzeugen angezündet habe, auf denen der gekreuzigte Leib Jesu eingraviert gewesen sei. Und falls man eingewendet hätte, ihre eigene Einstellung in Sachen Kindererziehung unterschiede sich von der ihres verhaßten Vaters nur hinsichtlich der angestrebten materiellen Ziele, wäre sie vermutlich vor Wut aus der Haut gefahren und hätte das Ergebnis ihrer Erziehung als Rechtfertigung präsentiert - ihren guten Sohn.
Doch nun stand ihr guter Sohn vor ihr - bleich, erschöpft, ölverschmiert bis zu den Ellbogen, offenbar unter der gleichen kaum verhohlenen Wut stehend, die das Markenzeichen seines Großvaters gewesen war, dem er jetzt sogar ähnelte. Ihre ganze Erziehung schien sich in einen Scherbenhaufen zu verwandeln.
»Arnie, wir wollen alles, was nun getan werden muß, morgen früh besprechen«, sagte sie und versuchte sich zusammen-zureißen und ihre Tränen niederzukämpfen. »Wir reden morgen
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