Dokument1
zufällig links an ihm vorbei auf den Vorgarten und entdeckte die beiden Fettklöße am vorderen Rasenrand sitzen.
Sie spitzten die Ohren und betrachteten mich mit schokoladen-eisverschmierten Gesichtern.
»Beruhige dich, Mann«, sagte ich. »Ich besorg dir den Reifen.«
»Nur, wenn du es gerne tust, Dennis. Ich weiß, es ist schon spät. Vielleicht willst du lieber nach Hause.«
»Gemacht, Arnie.«
»Mister?« sagte der kleine Junge und leckte sich die Schokolade von den Fingern ab.
»Redest du mit mir?« fragte Arnie.
Der Junge nickte. »Meine Mutter sagt, dein Wagen ist Pups!«
»Ja, Mammie sagt, dein Wagen ist Kacke«, pflichtete das kleine Mädchen bei.
»Pups und Kacke«, wiederholte Arnie. »Ihr lernt ja schöne Sachen von eurer Mutter. Sie ist ja die reinste Intelligenzbe-stie.«
»Nein«, widersprach der Kleine, »sie ist ein Widder. Ich bin Waage. Meine Schwester ist Jungfrau…«
»Ich beeil mich, Arnie«, sagte ich rasch.
»Okay.«
»Immer cool bleiben, Arnie.«
»Keine Angst, Dennis. Ich vergreif mich nicht an Kindern oder Frauen.«
Ich lief zu meinem Wagen. Als ich hinter das Lenkrad glitt, hörte ich, wie das kleine Mädchen mit seiner Piepstimme fragte: »Warum ist dein Gesicht so wellig, Mister?«
Ich fuhr die anderthalb Meilen bis zum JFK-Drive, der -
wenn ich meine Mutter zitieren darf, die in Libertyville aufgewachsen ist - zur Zeit von Kennedys Ermordung eine begehrte Wohngegend war. Vielleicht hat die Umbenennung des alten Barnswallow Drive nach dem ermordeten Präsidenten auch der Straße Unglück gebracht, denn seit Anfang der sechziger Jahre war der Wohnbezirk, durch den die Straße führte, zu einem merkantilen Ghetto degeneriert. Da gab es jetzt ein Autokino, ein McDonald’s, die King-Cheeseburger, Spielautomaten-Salons und ähnliches mehr. Außerdem eine Kette von acht oder zehn Tankstellen hintereinander, da der JFK-Drive zum Pennsylvania Turnpike führt.
In dieser Gegend hätte ich Arnies Reifen im Handumdrehen beschaffen müssen, aber die ersten beiden Tankstellen, die ich ansteuerte, gehörten zu der fortgeschrittenen Kategorie von Selbstbedienungsläden, wo man nur noch Benzin tanken und nicht einmal Öl kaufen kann. Hinter kugelsicherem Panzerglas hockt ein etwas beschränkt wirkendes junges Mädchen, vor einem Bildschirm-Computer, liest den National Enquirer und kaut Bubbelgum, der so groß ist, daß man einen Missouri-Esel damit ersticken kann.
Die dritte war eine Texaco-Tankstelle, und dort gab es Reifen.
Ich suchte mir aus dem Sortiment ein Exemplar heraus, das zu der Felge des Plymouth paßte (ich brachte es nicht fertig, ihn Christine zu nennen oder mit einem weiblichen Fürwort zu belegen), und erstand ihn für nur achtundzwanzig Dollar fünfzig plus Steuer; aber da die Tankstelle nur mit einem Mann besetzt war, der ständig Kundschaft bedienen mußte, dauerte es ziemlich lange - nämlich fünfundvierzig Minuten -, bis er den neuen Reifen auf Arnies Felge aufgezogen hatte. Ich bot an, ihn an den Zapfsäulen zu vertreten; doch er meinte, sein Boß würde ihn sofort feuern, wenn er Wind davon bekäme.
Als ich den neuen Reifen in meinen Kofferraum lud und dem Tankstellenwärter noch zwei Bucks für seine Bemühungen gab, hatte sich der Himmel im Westen in ein schwindelndes Purpur verwandelt. Die Büsche warfen lange, samtschwarze Schatten, und als ich langsam die Straße hinunterfuhr, strömte das verlö-
schende Licht des Tages wie eine Flut aus glühender Magma in die müllbeladene Gebäudelücke zwischen Arbys Supermarkt und der Kegelbahn. Diese Farbenflut war fast beängstigend in ihrer wilden, unerwarteten Schönheit.
Ich wurde von einer fast erstickenden Panik überrascht, die wie trockenes Feuer in meine Kehle stieg. Es war das erste Mal, daß mich in jenem Jahr, das so seltsam verlief und gar nicht enden wollte, eine solche Panik überkam, und es war nicht das letzte Mal. Es war ein unbeschreibbares, unerklärliches Angstgefühl. Sicherlich hing es auch mit dem Bewußtsein zusammen, daß heute der 11. August 1978 war und daß im folgenden Monat mein letztes Jahr an der Oberschule begann, und das bedeutete, daß die friedliche, ruhige Phase meines Lebens endgültig vorüber war. Ich war bereit, erwachsen zu werden, und daß es soweit war, erkannte ich zum erstenmal in dieser bezaubernden, aber irgendwie altmodischen goldroten Glut, die durch die Gasse zwischen dem Supermarkt und der Kegelbahn floß. Und ich glaube, ich verstand damals zum erstenmal,
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