Dolch und Münze (02): Königsblut (German Edition)
auf der Straße zu angemessenen Bedingungen wechseln zu können, würden ihn nach Carse bringen. Er konnte ein Zimmer oder eine einfache Arbeit im Erstgeborenenviertel annehmen, ohne dass er irgendjemandem groß auffallen würde. Es war vermutlich nicht schwer, die Medean-Bank zu finden, und er konnte sich einen Platz suchen, an dem er sitzen und sich als Bettler ausgeben konnte, bis Cithrin hineinging oder herauskam, und dann …
Er hielt am Eingang einer kleinen Gasse inne und spuckte in die Schatten. Heute Morgen hatte es alles plausibel gewirkt.
Das gedrungene, kleine Gebäude neben der Sporthalle war ursprünglich keine Baracke gewesen, aber nun war es eine. Die Spuren ihres vormaligen Lebens waren noch zu sehen: die ge flickten Löcher, wo irgendein großer Mechanismus an den Wänden befestigt gewesen war, den man dann entfernt und wo man die Wand mit Steinen einer anderen Farbe ausgebes sert hatte. Der östlichste Dachbalken war von irgendeinem lange zurückliegenden Feuer geschwärzt. In eine Steinwand war eine Reihe von Kerben gemeißelt, um Jahr für Jahr das Wachstum eines längst vergessenen Kindes festzuhalten. Vielleicht war es eine Schule oder irgendein überbevölkertes Haus gewesen, in dem zehn verschiedene Familien am Leben der anderen teilgenommen hatten. Im Winter kam die Hitze aus einem Ziegelei-Ofen, der so alt war, dass das Eisen beinahe so dünn wie Stoff geworden war.
Die Männer und Frauen drinnen waren sein Trupp. Die Privatwache der Medean-Bank. Tatsächlich waren nur wenige von ihnen anwesend, außer spätnachts, wenn sie von der Arbeit oder der Freizeit zurückkehrten, Hängematten aufhängten oder Bettrollen aufklappten und gemeinsam vor Wind und Wetter geschützt schliefen. Im Augenblick war nur Schabe da, der junge Timzinae mit dem braunen Chitinpanzer, dessen echten Namen niemand benutzte. Und der weniger ein Junge war als damals, als Marcus ihn angeheuert hatte.
»Alles klar, Hauptmann?«
»Bis auf die Tatsache, dass es eine verderbte und gefallene Welt ist«, erwiderte Marcus, und der Junge lachte, als wäre es ein Scherz. Marcus schulterte seine Bettrolle und stieg aufs Dach. Er erschreckte eine Taube, als er die Falltür aufstieß, und sie flatterte panisch durch die Luft. Marcus rollte sein Bett auf, und dann legte er sich auf den Rücken und sah zu, wie die Wolken grau wurden und der Himmel sich verdüs terte. Stimmen drangen von der Straße und den Baracken unter ihm herauf. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu Alys und Merian zurück. Zu der Familie, die er gehabt hatte, damals, als er noch zu den Männern gehört hatte, die eine Familie haben konnten. Alys’ dunkles Haar mit den Spuren von Grau. Merians langes Gesicht, das immer ein wenig entrüstet wirkte seit dem Augenblick, da sie den Bauch ihrer Mutter verlassen hatte. Er konnte sein kleines Mädchen immer noch in der Wiege lachen hören, konnte sich immer noch daran erinnern, wie es war, seine Lippen an den Hals seiner Frau zu drücken, dort, wo er in die Schulter überging. Er, der brillante junge General, ein edler Streiter für den rechtmäßigen Erben, Lian Frühlingssee, und sein Lordmarschall. Er war aufgebrochen, die Welt neu zu gestalten. Damals.
Es war nun mehr als zehn Jahre her, dass Alys und Merian aufgehört hatten, Schmerzen zu spüren. An manchen Tagen konnte er sich kaum an ihre Gesichter erinnern. An manchen Tagen hatte er die körperliche Gewissheit, dass sie mit ihm im Zimmer waren, unsichtbar, anklagend und voller Kummer. Trauer tat dem Menschen alles Mögliche an, aber das zu wissen machte es nicht besser.
Es war ganz dunkel, als sich die Falltür wieder öffnete. Marcus wusste, ohne hinzusehen, dass es Yardem war. Der große Tralgu setzte sich im Schneidersitz neben Marcus’ Kopf.
»Pyk hat nach Euch gefragt, Hauptmann. Sie will wissen, weshalb Dinge, die Ihr gekauft habt, im Lagerhaus der Bank liegen.«
»Weil ich der Wachhauptmann der Bank bin.«
»Das überzeugt sie vielleicht eher, wenn es von Euch kommt.«
»Wenn sie es nicht selbst zurück auf die Straße schleppen will, spielt der Grund keine Rolle.«
Yardem lachte leise.
»Was?«, fragte Marcus.
»Das war auch das Argument, das ich ihr dargelegt habe. An einer solchen Vorgehensweise schien sie nicht sonderlich interessiert.«
»Das, alter Freund«, sagte Marcus, »ist eine mächtig unangenehme Frau.«
»Ja.«
»Trotzdem. Ich habe schon für Schlimmere gearbeitet.«
»Da ist noch ziemlich viel Luft, Hauptmann.«
Die
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