Dolch und Münze (02): Königsblut (German Edition)
das Dach besaß Verzierungen aus Stein, die mühelos als Zinnen dienen konnten. Nison führte sie durch ein Eisentor und in einen Hof wie den eines Palastes. Ein Springbrunnen plätscherte, und der Duft von Räucherwerk strömte aus Fenstern, die von fein gearbeiteten Läden verschlossen waren. Diener oder Sklaven hatten die Pflastersteine geschrubbt, bis nirgendwo im Hof noch Schmutz oder Staub zu finden war. Er führte sie in eine weite, luftige Kammer mit Ziegelwänden und Wandbehängen und von dort eine Treppe hinauf, die sich entlang der Wand zu einer Tür aus Eiche krümmte, die Einlegearbeiten aus Elfenbein und Gagat zierten.
Es war naheliegend, dass die Dachgesellschaft größeren Reichtum als jegliche Zweigstelle hatte. Es war immerhin der Grund, weswegen es eine Dachgesellschaft gab und nicht nur ein Haupthaus der Bank. Die Gewinne und Verluste aus jedem einzelnen Zweig – ihre, die von Magister Nison oder von irgendwoher sonst – waren bestimmend für jeden Zweig. Sie stiegen mit ihren Verdiensten auf oder fielen, und sie alle zahlten in ein unabhängiges Unternehmen ein, das die Dachgesellschaft war, die keine Darlehen gab und keine Einlagen annahm, sondern stattdessen den Fluss des Geldes zwischen den Zweigstellen vermittelte. Niemand von außerhalb der Bank hatte Kontakt zu Komme Medean oder der Dachgesellschaft. Wenn Cithrin vor einem Krieg oder einem Jahr mit schlimmen Stürmen zu viele Versicherungen abschloss, konnte sie ihren Zweig in den Ruin treiben, aber ihre Schuldigkeit hatte bei ihr ein Ende. Niemand konnte Anspruch auf dieses Gebäude oder auf etwas aus einem der anderen Zweige erheben. Tatsächlich mochte, je nach Lage, die Dachgesellschaft sogar zu den Gläubigern gehören, die sie nicht mehr bezahlen konnte.
Es hörte sich an wie eine erfundene Geschichte, aber es war Dichtkunst von einer Art, die dieses Haus zu einem sicheren Hafen für Geld machte und ihr eigenes zu einem Triebwerk des Risikos. All das wusste sie und verstand es genauso, wie sie rechnen und schreiben konnte. Nur hatte sie es nie zuvor tatsächlich gesehen. Im Stillen fing sie an, ihren Zweig und seinen Wert im Verhältnis zu den Türen und Brunnen, Wandbehängen und dem Räucherwerk neu zu berechnen. Ihr Kopf drehte sich ein wenig.
Die Frau, die auf Magister Nisons Klopfen hin die Tür öffnete, war in eine dunkle Robe aus feiner Baumwolle gekleidet und hatte die Ärmel bis zum Ellbogen hochgerollt. Cithrin lächelte und nickte, nicht sicher, ob sie eine Frau von allerhöchstem Status vor sich hatte oder eine gut gekleidete Dienerin.
Neben ihr nickte Magister Nison in ihre Richtung. »Magistra bel Sarcour, die gerade aus Porte Oliva kommt. Sie hat die Berichte dabei. Ich dachte, Komme möchte vielleicht das Mädchen mit dem größten Mumm in ganz Birancour treffen.«
»Eigentlich komme ich aus den Freistädten«, sagte Cithrin. »Ursprünglich.« Es war dumm, aber die Worte strömten ungewollt aus ihrem Mund.
Die Frau in der dunklen Robe hob eine Augenbraue. »Er ist nicht sonderlich gut gelaunt«, erklärte sie. »Es ist ein schlechter Tag.«
»Ich kann ein andermal wiederkommen«, sagte Cithrin, die sich schon halb abgewandt hatte.
»Wer ist gekommen?«, rief eine Männerstimme. »Wer ist da?«
Die Frau legte Cithrin eine Hand aufs Handgelenk, als würde sie einen Hund am Ohr festhalten, um ihn am Weglaufen zu hindern, dann lehnte sie sich zurück und sagte laut: »Magister Nison und Magistra bel Sarcour.«
»Und Ihr lasst sie dort stehen, oder was?«
Die Frau und Nison zuckten mit den Schultern, und sie trat zurück und bedeutete ihnen, die Privatgemächer zu betreten. Die Böden waren aus einem goldbraunen Holz, das Cithrin noch nie gesehen hatte, lackiert, bis sie wie nasser Stein glänzten. Wandleuchten aus Gold und Silber hingen überall, und auf dem polierten Metall spiegelte sich das Licht aus kleinen, zierlichen Kerzen. Ein Wandbehang zeigte unzweifelhaft das Gebäude, in dem sie sich gerade befanden, aber in Farbtönen so leuchtend und lebendig, dass Cithrin sich nicht annähernd vorstellen konnte, welche Farben so etwas vollbringen konnten; es war, als blicke man auf den schillernden Flügel eines Schmetterlings. Sie wünschte, sie hätte angehalten, um ein etwas schöneres Kleid zu kaufen, ehe sie hergekommen war. Oder zumindest sauberere Sandalen.
Der Raum, den sie betraten, öffnete sich auf einer Seite zu einem Balkon, der auf den Hof hinabblickte. Die Zweige eines Baumes tanzten im Grün
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