Dolly - 05 - Dollys großer Tag
Geduld, Übung, Beharrlichkeit und wiederum Geduld.
Die fünfte Klasse hatte ihren großen Spaß an Alices neuem Interesse. Es war so amüsant zu sehen, wie sie plötzlich einen Bleistift, einen Gummi, ein Lineal und einen Füller in die Hand nahm und flink damit in der Luft jonglierte und sie geschickt in einer Hand auffing.
Es war herrlich komisch, wenn sie aufstand, um Mademoiselles Füllhalter zu suchen, und ihn dann scheinbar aus der Luft nahm, oder wenn sie der Lehrerin aus dem Ohr plötzlich ein Ei hervorzauberte.
Ein Ei aus Mademoiselles Ohr… Alice konnte großartig zaubern!
„Alice! So etwas dulde ich nicht!” sprühte Mademoiselle. „Oh, là là! Und jetzt hast du eine Zigarette aus meinem anderen Ohr gezaubert! Das ist nicht nett von dir! Das läßt mir die Hühnerhaut kommen!”
„Gänsehaut, Mademoiselle”, sagte Alice lachend. „O je, ist Ihr Füller wieder weg? Natürlich ist er wie immer in der Luft!” Und sie langte mit der Hand in die Luft und hielt plötzlich den Füller darin.
Kein Wunder, daß die Klasse von Alices neuer Beschäftigung begeistert war. Es machte die Unterrichtsstunden so viel amüsanter!
Zwei Mädchen warteten besonders ungeduldig darauf, daß Dolly das Stück fertiggeschrieben hatte: Evelyn und Margret. Alle beide sahen sich schon in der Rolle der Cinderella. Ab und zu schlich eine von ihnen heimlich in den Schlafsaal, um dort vor dem Spiegel mit offenen Haaren die Wirkung auszuprobieren.
Ich sehe genauso aus, wie Cinderella sein muß, dachte Evelyn. Ich bin der richtige Typ. Wenn ich nachdenklich in der Asche am Feuer sitze, das muß reizend aussehen!
Sie berichtete ihrer Mutter von dem geplanten Spiel. „Natürlich wissen wir noch nicht, wer die einzelnen Rollen übernimmt”, schrieb sie. „Die meisten möchten mich als Cinderella haben; sie sagen, ich wäre genau der richtige Typ. Was meinst Du, Mutter?”
Postwendend kamen zwei aufgeregte Briefe an; einer von ihrer entzückten Mutter, der andere von ihrer alten Gouvernante, die Evelyn schon immer angebetet hatte.
Die Mutter schrieb:
„Meine liebe Evelyn! Natürlich mußt Du die Cinderella spielen! Die Rolle ist Dir auf den Leib geschrieben. Dein Haar würde im Feuerschein reizend aussehen. Oh, wie stolz ich sein werde, wenn ich Dich dort so nachdenklich sitzen sehe…”
Und so weiter, und so weiter. In Fräulein Winters Brief stand mehr oder weniger das gleiche. Beide nahmen es anscheinend für eine ausgemachte Sache, daß Evelyn die Hauptrolle bekäme.
Eines Tages kam Martina überraschend in den Schlafsaal und fand Evelyn vor dem Spiegel: Das Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Sie hatte ein Badetuch umgehängt, das die Schleppe darstellen sollte.
„Was machst du denn da?” fragte sie erstaunt. „Wäschst du deine Haare oder was hast du vor? Bist du übergeschnappt, Evelyn? Du kannst doch nicht um diese Zeit deine Haare waschen! In fünf Minuten beginnt die Französischstunde!”
Evelyn murmelte etwas und schleuderte das Handtuch auf den Halter. Sie wurde glühend rot. Martina staunte.
Zwei Tage später kam sie abermals in den Schlafsaal, um zu sehen, ob die Fenster geschlossen waren. Diesmal stand Margret vor dem Spiegel, auch ihr Haar hing lang den Rücken hinunter wie ein goldener Schleier, und sie hatte eine alte Gardine um sich geschlungen.
Martina machte große Augen. Margret wurde feuerrot und begann hastig ihre Haare zu bürsten.
Martina gewann schließlich die Sprache wieder. „Was bildet ihr, Evelyn und du, euch eigentlich ein, mit offenem Haar herumzustolzieren, in Gardinen oder Handtücher gewickelt?” fragte sie. „Seid ihr beide verrückt geworden? Jedesmal, wenn ich hier hereinkomme, finde ich eine von euch mit offenem Haar und drapiertem Zeug um sich rum vor. Was soll das heißen?”
Der nüchternen und spöttischen Martina konnte Margret nun keinesfalls erzählen, daß sie die Rolle als Cinderella probte. Aber bei Martina fiel plötzlich der Groschen. Sie lachte laut und höhnisch auf. „Oh, ich weiß, was ihr macht! Alle beide bildet ihr euch ein, Cinderella zu sein! Was für eine närrische Vorstellung! Als ob wir ein Aschenputtel mit Kaninchenzähnen gebrauchen könnten.”
Lachend verließ Martina den Raum. Margret betrachtete sich im Spiegel. Tränen traten in ihre Augen. Kaninchenzähne! Wie häßlich von Martina! Wie grausam! Sie konnte doch nichts dafür, daß ihre Zähne so waren. Oder doch? Schuldbewußt erinnerte sie sich, daß sie früher eine Zahnklammer tragen
Weitere Kostenlose Bücher