Dolly - 05 - Dollys großer Tag
sollte, um die Zähne zurückzudrücken. Aber sie hatte sich daran nicht gewöhnen können und hatte sie in ihrem Nachtkästchen in der früheren Schule liegen lassen. Dort hatte sich niemand darum gekümmert.
Zum erstenmal stieg ein leiser Zweifel an ihrer wunderschönen alten Schule in ihr auf. War es wirklich gut, wenn man machen konnte, was man wollte? Vielleicht… ja, vielleicht war es besser, zu dem gezwungen zu werden, was gut für einen war, ob es einem gefiel oder nicht, wenigstens bis man alt genug war, es selbst zu wissen. Margret quetschte ein paar Tränen heraus, flocht ihre Zöpfe und versuchte, die Lippen fest über den vorstehenden Zähnen zu schließen.
Niedergeschlagen ging sie dann hinunter, um Evelyn zu suchen.
Evelyn hatte Margret längst satt. Die Neue hatte sich wie eine Klette an sie gehängt, erzählte ihr endlose, langweilige Geschichten von ihrer Familie, ihren Freundinnen, ihrer alten Schule und besonders von sich selbst.
Manchmal versuchte Evelyn sie mitten in ihrer Geschichte zu unterbrechen: „Margret, habe ich dir je von meiner Reise nach Norwegen erzählt? Ehrenwort, es war toll. Ich durfte jeden Abend zum Essen aufbleiben und war doch erst dreizehn…”
„Ich war nie in Norwegen”, antwortete Margret. „Aber meine Tante war letzten Sommer dort. Sie schickte mir einen Haufen Postkarten. Ich werde sie dir heraussuchen. Es wird dich sicher interessieren, sie zu sehen.”
Evelyn interessierten die Karten überhaupt nicht. Sie interessierte sich niemals für etwas, was ihr andere zeigten, sondern nur für sich selbst – genau wie Margret.
Das einzige Mal, daß Margret ihr wirklich zuhörte, war, als sie böse Geschichten über andere aus der Klasse erzählte. „Das hätte ich niemals von Dolly gedacht”, sagte sie. Oder: „Und hat Diane das wirklich getan?” Oder: „Oh – stell dir vor, wie häßlich von Will!”
Evelyn mußte an den Sportwettkämpfen und auch am Training teilnehmen. Es half ihr nichts, wenn sie sagte, sie fühle sich nicht gut.
Es war Irmgard, die Margret über Evelyns gezwungene Teilnahme an Sport, Gymnastik und Wanderungen aufklärte. Sie erzählte ihr schadenfroh die Geschichte von Evelyns schwachem Herzen.
Es war nicht recht, daß Irmgard das erzählte, aber von Margret war es genauso unrecht, daß sie zuhörte. Doch sie liebte ein bißchen Klatsch und bewahrte diese Information in ihrem Gedächtnis, ohne Evelyn etwas davon zu sagen.
Langsam fing Evelyn an, Margret zu hassen. Dieses entsetzlich eingebildete und egoistische Ding! dachte sie. Sie konnte den Ton ihrer Stimme nicht leiden und versuchte, ihr möglichst aus dem Wege zu gehen. Aber Margret ließ ihr keine Ruhe. Evelyn war die einzige, zu der sie sprechen und der sie gelegentlich auch etwas vorjammern konnte.
Margret war überzeugt, daß sie ebenso gut wie Britta zeichnen konnte… oder fast so gut. Sie glaubte, wunderbar singen zu können… und sie hatte auch eine erstaunlich kräftige Stimme, verfehlte leider nur manchmal den richtigen Ton. Sie war sicher, ebenso gut komponieren zu können wie Irene und trieb sogar Dolly zur Verzweiflung, als sie ihr anbot, ein paar Verse für sie zu schreiben.
„Was machen wir bloß mit dieser unerträglichen Margret?” beklagte sich Jenny eines Abends. „Sie kommt dauernd und will mir nähen helfen, und wenn ich ihr etwas gebe, verdirbt sie es so, daß ich alles auftrennen muß.”
„Der müssen wir eine Lektion geben!” sagte Alice.
„Evelyn sieht in diesen Tagen recht verdrossen aus”, meinte Britta. „Sie hat nicht gern so ein Spiegelbild neben sich. Ob sie wohl merkt, wie ähnlich Margret ihr ist? Ebenso albern, ebenso langweilig, so eingebildet und prahlerisch und…”
„Oh”, protestierte Katja. „Seid ihr nicht reichlich unfreundlich mit der armen Margret, Britta?”
Britta sah Katja an. „Es gibt Zeiten, in denen man freundlich sein kann, und Zeiten, in denen man unfreundlich ist, liebe, süße Katja”, sagte sie. „Aber du kennst das sicher nicht. Du glaubst nett zu sein, wenn du alle meine Bleistifte spitz wie eine Stecknadel machst, aber du bist es gar nicht. Du mischst dich nur in Sachen, die dich nichts angehen. Ich möchte nicht alle meine Bleistifte spitz haben, ich lasse absichtlich einige von ihnen stumpf. Und von wegen unfreundlich zu Margret sein… Was Margret nötig hat: eine gute Dosis gesunden Menschenverstand, den man ihr ordentlich einbleuen müßte.”
Katja setzte ihre Märtyrermiene auf. „Du weißt es natürlich
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