Dolly - 10 - Wiedersehen auf der Burg
Weile ging das Licht wieder aus. Susu zählte langsam
bis fünfzig. Dann preßte sie den Mund wieder auf das Rohr. „Hedwig Sauer – wo bist du?“ flüsterte sie. Wieder ging unten das
Licht an.
„Ist da wer?“ rief Fräulein Sauer mit ungewöhnlich piepsiger
Stimme. Vivi biß sich auf die Lippen, um nicht loszulachen. Fräulein
Sauer ging an die Tür, schaute auf den Flur hinaus und schloß
anschließend zweimal energisch den Schlüssel herum. Dann trat sie
ans Fenster und schaute hinaus. Vivi und Susu hielten den Atem an.
Hinter ihnen lauschten mit angespannter Aufmerksamkeit die übrigen
Mädchen.
„Merkwürdig…“, murmelte Fräulein Sauer, ging zu ihrem Bett
zurück und knipste das Licht aus.
Susu wartete ein paar Minuten. Dann begann sie von neuem. „Hedwig Sauer! Suche mich nicht. Du kannst mich nicht sehen…“ „Wer ist da?“ krächzte Fräulein Sauer, verzichtete aber darauf, das Licht anzuknipsen.
„Ist da wer?“ rief Fräulein Sauer mit piepsiger Stimme
„Hier ist der Geist der Rache, Hedwig Sauer! Du hast mich aus meinem Schlaf geweckt – mit deiner Härte und Kälte hast du mich ins Reich der Lebenden gerufen!“
„Geist?“ stotterte die Sauergurke.
„Bemühe dich nicht… ich bin unsichtbar… aber ich werde dich verfolgen… du wirst keine Ruhe mehr haben… lieg gefälligst gerade, wenn ich mit dir spreche! Und halte den Kopf ruhig!“
„Grrrrkpffff…“, gluckste Olly im Hintergrund los und steckte schnell den Kopf unter die Decke.
„Jede Nacht werde ich jetzt zu dir kommen… Schwester des Bösen… bis ich dich zu mir geholt habe!“ hauchte der Geist. „Zuck nicht mit den Füßen! Falte die Hände auf der Bettdecke! Wo bleibt deine Disziplin! Ich weiß alles von dir… ich sehe dir bis ins Herz… es ist kalt wie Eis! Ich gehe jetzt… aber morgen komme ich wieder! Uuuoooh…“ An den Schluß setzte Susu noch ein gräßliches Stöhnen.
Jetzt ging unten das Licht an. Fräulein Sauer sprang aus dem Bett, rannte zur Tür, schloß auf und rannte hinaus. Nichts – der Flur lag totenstill da.
„In die Betten!“ kommandierte Vivi. „Sicher kommt die Sauergurke gleich rauf!“
In Sekundenschnelle lagen die Mädchen unter ihren Decken und taten, als schliefen sie fest. Aber die Sauergurke kam nicht. Sie war in ihr Zimmer zurückgekehrt, durchsuchte den Schrank, die Kommode, schaute unter das Bett, sah noch einmal aus dem Fenster, dann hinter den Spiegel, in den Nachttisch und schließlich unter den Teppich. Nirgends war eine Spur, die zur Auffindung der merkwürdigen Stimme führte. Lange, sehr lange dauerte es, bis die Sauergurke wagte, das Licht zu löschen. Doch diesmal blieb alles still, und sie fiel in einen unruhigen, von schweren Träumen begleiteten Schlaf.
Ein verpatztes Rendezvous
Noch zweimal erschien der Geist bei Sauergurke. Dann beschloß Susu, eine Pause zu machen.
Die Mädchen aus der Dritten berichteten, daß Sauergurke ungewöhnlich sanft und geistesabwesend unterrichtet hatte. Außerdem sah man sie im Park mit einem Buch über außersinnliche Wahrnehmungen und wissenschaftlich belegte Spukfälle sitzen. Und ein Mädchen aus der Vierten begegnete ihr, als sie sich auf der Krankenstation ein starkes Beruhigungsmittel geben ließ.
Auch Dolly war Fräulein Sauers ungewöhnliche Lektüre aufgefallen. Und als sich die Lehrerin bei ihrer Kollegin Wagner erkundigte, ob es früher einmal Geistererscheinungen auf Burg Möwenfels gegeben hatte, horchte sie auf. Sollte sie die Mädchen fragen? Sie hätte zu gern gewußt, wer hinter diesen Geistererscheinungen steckte. Aber sie war nicht mehr Schülerin in Möwenfels, und die Mitwisserschaft hätte sie nur in eine zwiespältige Lage gebracht.
Das Rätsel tat ihr den Gefallen, sich von allein preiszugeben, als sie am nächsten Tag das Fenster im Schlafsaal der Ersten zum Lüften öffnen wollte. Aus dem Efeu ragte ein Stückchen Rohr. Dolly schob die Blätter auseinander, um zu sehen, was es mit diesem Rohr auf sich hatte. War es ein abgebrochenes Heizungsrohr? War es vom Dach gefallen? Wie kam es hierher? Dann sah sie, daß das Rohr geradewegs zu Fräulein Sauers Zimmer führte. Dolly lächelte. Sie wollte nichts gesehen haben…
Als die Mädchen am Abend in ihren Betten lagen, kam Dolly, um ihnen wie immer gute Nacht zu sagen.
„Ich habe gehört, daß es in Burg Möwenfels neuerdings Geister geben soll“, sagte sie beiläufig. „Solche Geister können sehr amüsant sein – aber sie können auch eine Gefahr
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