Dolly - 16 - Dollys schoenster Sieg
unverbindlichen Maske.
„Hast du Ärger?“ fragte Dolly. Gundula schüttelte den Kopf.
„Hat Fräulein Pott dich getadelt? Hast du etwas angestellt? Du kannst es mir ruhig sagen, wir werden es schon wieder in Ordnung bringen“, versprach Dolly ihr lächelnd.
„Nein, nein!“ beteuerte Gundula, jetzt wieder ganz das beherrschte junge Mädchen. „Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie aufgehalten habe!“
Sie ging zur Tür. Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um und sagte: „Ich wollte nur nicht mit Herrn Schwarze zusammen gehen.“
Dolly schaute ihr verwundert nach. Merkwürdig, was in den Köpfen der Mädchen manchmal vorging. In dem Alter waren sie so überempfindlich. Sicher hatte Klaus sie im Unterricht ein bißchen hart angepackt. Dolly wußte, daß Klaus mit dem übertrieben höflichen Benehmen Gundulas einerseits und dem interesselosen Verhalten im Unterricht andererseits nicht sehr gut zurechtkam. Da konnte es schon passieren, daß er mal aus der Haut fuhr. Allerdings bemühte er sich hinterher stets in einem persönlichen Gespräch, die Mißstimmung wieder auszuräumen.
Wie hatte er Gundula beschrieben? „Sie sieht aus wie ein Engel und ist dabei so farblos wie eine Schaufensterpuppe. Sie ist einfach nicht zu packen, immer habe ich das Gefühl, in einen Berg aus Watte zu greifen, wenn ich versuche, sie aus ihrer Reserve zu locken. Keine Freundinnen, keine Interessen, keine Abneigungen, keine Träume und Wünsche… man fragt sich manchmal, ob sie überhaupt lebt!“
Ja, sie war ein merkwürdiges Mädchen, unauffällig, gut erzogen, langweilig konnte man fast sagen. Als ob sie niemals richtig wach würde. Nur manchmal blitzte in diesem Engelsgesichtchen etwas wie Leidenschaft auf, wurde aber sofort wieder unter Kontrolle gebracht.
Vermutlich hat sie zu Hause eine gräßlich strenge Erziehung gehabt, dachte Dolly. Mund halten und gehorchen, nie das tun dürfen, was man möchte. Nie frei erzählen dürfen, Freude und Kummer nicht zeigen, Zärtlichkeit nicht äußern dürfen. Es gab auch heute noch Eltern, die ihre Kinder so erzogen und glaubten, sie damit am besten auf das Leben vorzubereiten. Wo kam Gundula eigentlich her?
Dolly stand auf, um sich den Personalbogen Gundulas aus dem Schrank zu holen, da trat Ellen Wollert ins Zimmer.
„Ich muß dir etwas zeigen“, sagte sie und hielt Dolly einen Brief entgegen, der dem glich, den sie selbst gerade in den Papierkorb geworfen hatte. „Den hat Franz heute mit der Post bekommen, er hat ihn mir gerade gegeben.“
Dolly schüttelte ungläubig den Kopf.
„Unsere geheimnisvolle Feindin ist fleißig, das muß man ihr lassen. Hier, schau, den habe ich heute bekommen.“
„Meinst du nicht doch, wir sollten damit zur Polizei gehen?“
„Polizei-Verhöre in der Burg? Ich weiß nicht. Ich möchte nicht, daß die Mädchen da hineingezogen werden. Und das würden sie doch unweigerlich!“
„Aber die Sache muß doch mal ein Ende haben!“
„Schon, aber glaubst du, daß die Polizei mehr herausfindet, als wir es könnten? Noch haben wir nicht wirklich versucht, den Täter zu finden“, erklärte Dolly. „Ich bin der Meinung, wir sollten uns Gedanken machen, was wir selbst zur Aufklärung des Falles tun könnten.“
„Du hast recht, ja, wir haben die ganze Sache einfach nicht ernst genug genommen.“
„Laß uns heute noch einmal mit Klaus und Franz darüber sprechen. Vielleicht gibt es einen Weg, den Täter aus der Reserve zu locken, ihn
– oder vermutlich sie – zu einer Tat zu provozieren, die wir kontrollieren können“, schlug Dolly vor. „Heute nachmittag habe ich eine Verabredung mit Feli im Möwennest drüben. Aber am späteren Abend vielleicht? Wenn die Mädchen schlafen gegangen sind?“
„Das ist gut, ja. Dann kommen wir zu euch runter, wenn es dir recht ist.“
„Gut.“
Am Nachmittag ging Dolly zu ihrer Schwester in die – Burg Möwenfels angeschlossene – weiterführende Schule hinüber, in der sie selbst sich damals auf den Beruf vorbereitet und schließlich ihren Lehrer für Literatur, KlausHenning Schwarze, geheiratet hatte. Jetzt studierte Felicitas dort Sprachen, Literatur, Steno und Schreibmaschine und ließ sich in Hauswirtschaft ausbilden.
Dolly hatte den Umweg über den Küstenweg gewählt; sie sehnte sich danach, gegen den Wind anzulaufen und alle trüben Gedanken aus ihrem Kopf blasen zu lassen. Jetzt bog sie auf den schmalen Wiesenweg ein, von dem aus man den großen Gutshof, der zum ,Möwennest’ geworden war, auf einer
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