Dom Casmurro
erfreut über diesen Zufall. Ich sah die unbändige Wut des Mohren – alles wegen eines Tuchs, eines einfachen Tuchs! Und hier gebe ich Psychologen sämtlicher Kontinente Stoff zum Nachdenken, weil es wirklich sehr bemerkenswert ist, dass ein Taschentuch genügte, um Othellos Eifersucht zu entzünden und die wohl erhabenste Tragödie dieser Welt auszulösen. Taschentücher spielen heute keine Rolle mehr, heute bedarf es der Betttücher. Und irgendwann werden es nicht mehr die Betttücher sein, weil nur noch die Hemden zählen. Solch düstere und wirre Gedanken gingen mir im Kopf herum, während der Mohr sich zuckend wand und Jago seine Verleumdungen in die Welt setzte. In den Pausen blieb ich in meinem Sessel sitzen; ich wollte mich nicht zeigen und womöglich einem Bekannten begegnen. Die Damen harrten fast alle in ihren Logen aus, während die Männer zum Rauchen hinausgingen. Ich fragte mich, ob eine von ihnen wohl jemanden geliebt hatte, der nun auf dem Friedhof ruhte. Mir kamen noch andere wirre Gedanken, bis der Vorhang hochgezogen wurde und das Stück weiterging. Der letzte Akt zeigte mir, dass eigentlich nicht ich, sondern Capitu sterben müsste. Ich hörte Desdemonas Flehen, ihre liebevollen, reinen Worte, sah den wütenden Mohren, der sie unter dem frenetischen Beifall des Publikums tötete.
«Und dabei war sie unschuldig», sagte ich mir, als ich die Straße hinablief. «Was hätte das Publikum gemacht, wenn sie wirklich schuldig gewesen wäre, so schuldig wie Capitu? Wie hätte der Mohr sie dann getötet? Ein Kopfkissen hätte nicht genügt. Blut und Feuer wären nötig gewesen, ein großes, loderndes Feuer, das alles verschlungen und sie in Asche verwandelt hätte. Und ihre Asche wäre in alle Winde verstreut worden, um sie für immer auszulösche n …»
Ich irrte den Rest des Abends durch die Straßen. Zur Nacht aß ich wenig, fast nichts, doch genug, um bis zum nächsten Morgen auszuhalten. Ich erlebte die letzten Stunden der Nacht und die ersten des Morgens, sah die letzten Spaziergänger, die ersten Straßenkehrer und die ersten Kutschen, hörte die ersten Geräusche, sah die erste Morgenröte; ein Tag, der auf einen anderen folgte und an dem ich scheiden würde, um nie mehr wiederzukehren. Die Straßen, in denen ich herumlief, schienen vor mir zu fliehen. Nie wieder würde ich das Meer von Glória erblicken, und auch nicht die Serra dos Órgaos 81 , die Festung von Santa Cruz 82 und anderes mehr. Ich begegnete weniger Menschen als an normalen Werktagen, und doch waren es einige. Vermutlich waren sie auf dem Weg zu einer Arbeit, die sich am nächsten Tag wiederholen würde; ich würde nichts mehr wiederholen.
Zu Hause angekommen öffnete ich vorsichtig die Tür, schlich mich ins Haus und zog mich in mein Arbeitszimmer zurück. Es war kurz vor sechs. Ich holte das Gift hervor und schrieb, bereits in Hemdsärmeln, einen Brief, den letzten, an Capitu. Ich hatte ihr seit langer Zeit nicht mehr geschrieben, doch nun verspürte ich das Bedürfnis, ihr ein paar Worte zu hinterlassen, die bei ihr Gewissensbisse wegen meines Todes auslösen würden. Ich verfasste zwei Versionen. Die erste verbrannte ich sofort wieder, weil sie zu lang und zu wirr war. Die zweite enthielt nur das Nötige, war kurz und eindeutig. Ich rief ihr nicht die Vergangenheit in Erinnerung und auch nicht unsere Streitigkeiten oder irgendwelche schönen Stunden, sondern sprach nur von Escobar und der Notwendigkeit zu sterben.
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Die Tasse Kaffee
Mein Plan war es, den Kaffee abzuwarten, das Gift darin aufzulösen und dann zu trinken. Da ich die römische Geschichte noch nicht ganz vergessen hatte, fiel mir ein, dass Cato ein Buch von Platon gelesen hatte, ehe er sich das Leben nahm. Platon hatte ich nicht zur Hand, dafür aber einen unvollständigen Band Plutarch, in dem das Leben jenes berühmten Römers erzählt wird. Das genügte mir als Beschäftigung für diese kurze Zeit, und um alles genau nachzuahmen, legte ich mich ebenfalls auf das Canapé. Es ging nicht nur um das Nachahmen; so wie Cato der philosophischen Gedanken bedurfte, um furchtlos sterben zu können, musste ich mir ebenfalls Mut machen. Ein Nachteil der Unwissenheit ist, dass man in der letzten Stunde nicht über dieses Hilfsmittel verfügt. Viele Menschen töten sich zwar trotzdem und sterben gleichermaßen würdevoll, doch ich bin mir sicher, weit mehr Menschen würden ihrem Leben ein Ende setzen, wenn ihnen das moralische Opium der guten Bücher zur Verfügung
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