Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
Bohnen. Der Kellner lachte verächtlich und meinte, so etwas würde hier nicht serviert. Er schlug statt dessen Steaks oder Hühnchen vor. Wir einigten uns auf eine Suppe. Wir aßen schweigend. Die Suppe schmeckte mir nicht, und ich konnte sie nicht aufessen, aber Don Juan aß seinen Teller leer. »Ich habe einen Anzug angezogen«, sagte er unvermittelt, »um dir etwas zu verstehen zu geben, etwas, was du bereits weißt, was aber einer Klärung bedarf, wenn es für dich wirksam werden soll. Ich habe bis jetzt gewartet, weil Genaro meint, daß du nicht nur gewillt sein mußt, den Weg des Wissens auf dich zu nehmen, sondern daß deine Bemühungen selbst makellos genug sein müssen, um dich dieses Wissens würdig zu erweisen. Du hast es gut gemacht. Jetzt will ich dir die Erklärung der Zauberer sagen.«
Wieder machte er eine Pause, rieb sich die Wangen und bewegte die Zunge im Mund, als ob er seine Zähne befühlte. »Ich werde dir jetzt etwas über das Tonal und das Nagual erzählen«, sagte er und sah mich eindringlich an. Dies war das erste Mal, seit wir uns kannten, daß er diese beiden Begriffe erwähnte. Aus der anthropologischen Literatur über die Kulturen Zentralmexikos war ich ungefähr mit ihnen vertraut. Ich wußte, daß das »Tonal« (gesprochen toh-na'hl) als eine Art Schutzgeist - in der Regel ein Tier -vorgestellt wurde, den ein Kind bei der Geburt erhielt und mit dem es sein Leben lang eine enge Bindung unterhielt. »Nagual« (gesprochen: nah'wa'hl) war der Name des Tieres, in das ein Zauberer sich angeblich verwandeln konnte, oder des Zauberers, der eine solche Verwandlung vornahm. »Dies ist mein Tonal«. sagte Don Juan und strich sich mit den Händen über die Brust. »Dein Anzug?«
»Nein, meine Person.«
Er klopfte sich auf die Brust, die Schenkel und die Rippen. »All dies ist mein Tonal.«
Er erklärte, daß jeder Mensch zwei Seiten habe, zwei getrennte Wesenheiten, zwei Gegenstücke, die im Augenblick der Geburt ihr Dasein aufnehmen: das eine heiße das »Tonal«, das andere das »Nagual«. Ich erzählte ihm, was die Anthropologen über die beiden Begriffe wüßten. Er ließ mich reden, ohne mich zu unterbrechen.
»Meinetwegen. Was du auch darüber zu wissen glaubst, es ist barer Unsinn«, sagte er. »Diese Behauptung gründe ich auf die Tatsache, daß alles, was ich dir über das Tonal und das Nagual sage, dir unmöglich vorher hätte gesagt werden können. Jeder Idiot wüßte, daß du nichts darüber weißt, denn um mit diesen Begriffen vertraut zu sein, müßtest du ein Zauberer sein, und das bist du nicht. Oder du hättest darüber mit einem Zauberer sprechen müssen, und das hast du nicht. Vergiß also alles, was du bisher darüber gehört hast, denn es trifft nicht zu!«
»Es war doch nur als Kommentar gemeint«, sagte ich. Er hob die Brauen und schnitt ein komisches Gesicht. »Deine Kommentare sind fehl am Platz«, sagte er. »Diesmal brauche ich deine ungeteilte Aufmerksamkeit, denn ich werde dich mit dem Tonal und dem Nagual vertraut machen. Die Zauberer haben ein besonderes, einzigartiges Interesse an diesem Wissen. Ich möchte sagen, Tonal und Nagual sind ausschließlich den Wissenden zugänglich. In deinem Fall ist dies sozusagen der Deckel, der alles abschließt, was ich dich bisher gelehrt habe. Darum habe ich bis jetzt gewartet, um dir davon zu erzählen. Das Tonal ist nicht ein Tier, das über einem Menschen wacht. Eher könnte man sagen, es ist ein Wächter, den man sich als ein Tier vorstellen kann. Aber dies ist nicht die entscheidende Frage.«
Er lächelte und zwinkerte mir zu.
»Ich will jetzt mal deine eigenen Worte gebrauchen«, sagte er. »Das Tonal ist die soziale Person.«
Er lachte, wie ich annahm, über mein bestürztes Gesicht. »Das Tonal gilt, mit Recht, als ein Beschützer, ein Wächter -ein Wächter, der sich meistens in einen Wärter verwandelt.« Ich fummelte an meinem Notizbuch herum. Ich versuchte mitzubekommen, was er sagte. Er lachte und äffte meine nervösen Bewegungen nach.
»Das Tonal ist der Organisator der Welt«, fuhr er fort. »Vielleicht kann man seine gewaltige Arbeit am besten beschreiben, wenn man sagt, daß auf seinen Schultern die Auf-136 gäbe ruht, das Chaos der Welt zu ordnen. Es ist nicht zu weit hergeholt, wenn man - wie die Zauberer - behauptet, daß alles, was wir als Menschen wissen und tun, das Werk des Tonal ist. Im Augenblick zum Beispiel ist es dein Tonal, das versucht, unser Gespräch zu verstehen. Ohne dieses gäbe es
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