Don Juan de la Mancha
eine Studentin auf und sagte: Ich bin Franz Vesely.
Das war Alice.
35.
Jetzt wäre es natürlich schön gewesen, wenn der Reihe nach alle anderen im Seminar aufgestanden wären, um Franz zu unterstützen. Aber so weit waren wir nicht. Wir waren nicht einmal so weit, dass wir begreifen konnten, dass wir nie so weit kommen werden. Die Welt ist ein Seminar, und die meisten werden sitzen bleiben. Ich war die übliche Ausnahme, und Alice war das Wunder.
Entschuldigen Sie bitte die Rührung, Hannah. Ich glaube, die Emotionen kommen zurück.
Zurück? Nein, Nathan! Ich denke, dass Ihre nassen Augen nichts mit damals zu tun haben, sondern allein mit Ihrer gegenwärtigen Situation: reine Alterssentimentalität. Die hat mit Ihren damaligen Gefühlen so viel zu tun wie ein Suppenwürfel mit frischer Suppe. Darum die Tränen: damit der Würfel sich auflöst.
Alice stand da und sah Professor Poppe herausfordernd an. Ich hatte schon oft von Liebe auf den ersten Blick gehört, aber bis zu diesem Augenblick nicht geglaubt, dass sie einmal mir zustoßen könnte. Ich stand in der Reihe hinter ihr, etwas seitlich, sah ihr Profil, ihre braungebrannten Arme, Konzentration, Ebenmaß und Kraft. Diese Arme erschienen mir wie Hebel, die die Welt aus den Angeln zu heben vermochten, von diesen Armen wollte ich umschlungen sein. Meine Sehnsucht perlte an ihrer Haut ab, ich sah ihren Nacken, die zarten Nackenhaare, auf denen wie auf Perlenschnüren einige Schweißtropfen aufgefädelt waren.
Noch nie aber hatte ich gehört, was Liebe auf den ersten Blick wirklich bedeutet: nämlich Verbot, Zensur, Stillstand. Wenn der erste Blick so stark ist, will man nichts mehr sehen, was an diesen ersten Blick nicht heranreicht. Der Liebende versucht, zunächst glücklich, dann verzweifelt und am Ende erfolglos, zur Aufrechterhaltung seiner Liebe immer nur mit diesem ersten Blick zu schauen, immer nur wieder zu sehen, was man beim ersten Blick gesehen hatte oder zu sehen glaubte. Der erste Blick will also nur noch Auf Wiedersehen sagen. Darum kann diese Liebe keine Dauer haben. Man kann den ersten Blick morgens einschalten wie eine Kaffeemaschine, und alles, was in die Wahrnehmung tröpfelt, geht durch diesen Filter. Am Ende ist alles schal – und doch bleibt die Erfahrung des ersten Aromas unvergesslich.
Dies war der letzte Punkt auf meiner Liste prägender und unvergesslicher »erster Erfahrungen«: die erste Reise, der erste Kuss, die erste Wohnung, der erste Handke, die erste Zigarette, der erste Alkohol, das erste Mal, der erste Blick.
Was ich sah, war nicht nur ein bestimmter, singulärer Mensch, sondern auch die Verhältnisse, in die sich ein Mensch begibt, die er mitproduziert und die er verändert. Unsichtbare Muster, die plötzlich sichtbar wurden. Ich sah diese Mitfühl-Angst der anderen Studenten: Keiner wollte in der Haut derer stecken, die da standen. Aber so mancher würde gerne, wenn es gut ausgehen sollte, später erzählen können, dass er dabeigewesen ist. Das sah ich, diese sich wegduckende Identifikation. Der Angstdunst: Was wird der Mächtige nun tun? Wird sein Zorn Querschläger produzieren, die auch sie treffen? Zugleich diese verhohlene Hoffnung, dass nun gelinge, was sie nie und nimmer versucht hätten: den Mächtigen zu widerlegen. Und auch er hatte Angst, er zeigte eine deutliche Verunsicherung. Wie Professor Poppe in die Reihen der Studenten blickte – ich sah, dass er nichts mehr sah, nur noch eine Gesichterwand, eine Menschenmauer. Er konnte nicht wissen, ob jetzt nicht der Nächste aufsteht, und dann wieder einer. Ja, er hatte Angst. Und ich hatte Angst. Alle hatten Angst. Das war das Eigenartige: dass diese Spaltung des Seminars, dieser Konflikt eine eigentümliche Harmonie erzeugte, weil jeder auf seine Weise wie die anderen fühlte.
Professor Poppe nahm seine Tasche, öffnete sie. Warum? Franz nahm just in diesem Moment seine Tasche und öffnete sie. Das geschah in fast ballettartiger Synchronie. Franz nahm einen Packen Papier heraus und rief: Das ist das Universitäts-Organisations-Gesetz. Ich fordere Sie auf, mir die Bestimmung zu zeigen, die meinen Ausschluss aus dem Seminar rechtfertigt.
Poppe: Verlassen –
Franz: Hier ist das Gesetz!
Alice (auf Poppe zeigend): Und hier ist die Willkür!
Poppe: – Sie dieses Seminar!
36.
Ja, wir waren dieses Seminar. Franz, Alice und ich gründeten noch am selben Abend die Arbeitsgruppe »AG Publizistik«. Wir gingen ins Gasthaus Hebenstreit, fünf Minuten von der Uni
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