Don Juan de la Mancha
entfernt, redeten bis zur Sperrstunde, machten Pläne, hielten Gericht. Wie bürokratisch wir waren, wir fertigten ein Protokoll an! Andererseits, heute würde man sagen: eine To-do-Liste.
Sie werden es nicht glauben, Hannah, aber ich habe dieses Protokoll, zusammen mit Notizen, Exzerpten und Seminarmitschriften unlängst beim Aufräumen zufällig in einer alten Mappe gefunden. Und wie der Geist aus der Flasche ist die Erinnerung aus dieser Mappe aufgestiegen. Das gekurbelte Schicksal und die schönste Frau der Welt und –
Hatten Sie getrunken, Nathan?
Nein. Und ich habe auch gleich wieder aufgehört mit dem Aufräumen.
Das »Protokoll«: »Wichtig: Erstens Seminarkritik. Dazu erforderl.: Seminar-Tagebuch. Wer? Franz. Wird mitschreiben. Ev. Tonbandgerät? Dok. O-Ton Poppe. Zweitens: Recherche der wissenschaftl. Karriere von Po. Bibliographie seiner Publikationen, Diss, Habil, Aufsätze – Kritische Lektüre. Aufteilen? Bibl. macht Franz, Franz liest Poppe Diss, Alice Poppe Habil. Nath. Aufsätze. Drittens: Methodendiskussion – Alice bereitet Papier vor. Viertens: Praxis?«
Das Fragezeichen hinter »Praxis« hat mich am meisten berührt. Können Sie das verstehen? Das ist doch seltsam. Denn das, was wir da planten und dann ausführten, war doch Praxis, das einzige Praktikum, das wir damals machen konnten. Praktische Erfahrungen, die sich als bestmögliche Vorbereitung für unser späteres Leben erweisen sollten: kritisches Lesen, Schreiben, Organisieren, Recherchieren. Und ganz wichtig: nicht erwachsen werden.
Es war eine Schule des Lebens – allerdings nur, wenn man für die Zeit nach der Schule ein Leben ohne Lust erwartet. Ich hätte schon an diesem Abend statt »Wir hassen Poppe« (im Grunde sagten wir mit allem, was wir redeten, nichts anderes) viel lieber »Ich liebe dich, Alice« gesagt.
Viel lieber. Viel leichter.
»Viel leichter« ist die Steigerungsstufe von »vielleicht«.
Ich liebe dich, Alice! Ich dachte, ihre Liebe nur gewinnen zu können, wenn ich mich vor ihr wichtig machte im Kampf gegen Poppe. Ich sah Alice an, sagte: Ja, du hast recht, ich sagte: Das übernehme ich, ich sagte: Wir sollten noch dies und das, ich sagte: Notiere das, das muss ins Protokoll!
Diese Geschäftigkeit verschaffte auch Lust. Nur Auch-Lust.
Die schlanken starken Arme von Alice. Später, allein zu Hause im Bett, onanierte ich, und ich dachte dabei an diese Arme. Da begann schon das Verhängnis. Davon später mehr. Schließlich weinte ich in mein Kissen, als mir Peter Handkes Satz aus seinem Roman »Stunde der wahren Empfindung« einfiel: »Wieder eine Frau, die nicht für mich bestimmt ist.« Ich weinte nicht wirklich, ich dachte nur, dass ich geschrieben hätte: »Er weinte in sein Kissen.«
Alice führte das Wort, Franz führte das Protokoll. Und selbstverständlich war er es, der alle praktischen Dienste übernahm. Er sollte Filzstifte und einen Bogen Papier kaufen und das Plakat schreiben, das wir im Institut aufhängen wollten.
Das Gasthaus Hebenstreit verfügte über ein Extrazimmer, das »für private Veranstaltungen, sprich Hochzeiten und dergleichen«, so die junge Wirtin Frau Uschi, gebucht werden konnte.
Ob wir es sehen dürften?
Frau Uschi holte den Schlüssel, ging uns voran, an den Toiletten vorbei – heute frage ich mich, wieso mich Alice und nicht Uschi in meinen nächtlichen Phantasien beschäftigt hatte. Uschi trug einen BH, der ihren Busen hochdrückte und aus dem Ausschnitt ihrer weißen Bluse hervorquellen ließ, sie hatte ein Hinterteil, das man trotz aller Skrupel gegenüber zotiger Sprache als Pferdearsch bezeichen musste. Sie hatte aber lange schlanke Beine – sie war ein Pin-up. Und ich war ein Romantiker. Folgte Uschi, Franz, Alice – Alice! Wie elegant sie sich bewegte! Wie ein edles Tier!
Das schlechte Gewissen. Weil ich in Hinblick auf eine Frau »Tier« gedacht hatte. »Edel« erleichterte mein Gewissen nicht.
Frau Uschi sperrte eine Tür auf, öffnete sie und sagte: Bitte, hier ist das Museum.
Museum? Die Wände in halber Höhe holzvertäfelt. Ein geölter, mittlerweile schwarz gewordener Schifferboden. Ein langer Tisch, darüber tief hängende Lampen mit runden Email-Schirmen. Ein Kanonenofen. Die museale Inszenierung eines konspirativen Hinterzimmers. An der rechten Wandseite befand sich ein Schaukasten, wie ihn Museen haben. Hier lagen hinter Glas: drei Schwarz-Weiß-Fotos. Eines zeigte eine Gruppe von Männern, die um den Tisch in diesem Zimmer saßen, das zweite
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