Donaugrund (German Edition)
alkoholisiertem Zustand versehentlich und ungewollt zu überwinden. Und selbst mit vier Promille müsste man sich dazu schon außerordentlich doof anstellen.
»Vielleicht ist er ja gar nicht von hier gefallen, sondern hat einen kleinen Spaziergang gemacht und ist dort unten ins Wasser gestürzt«, überlegte er weiter und deutete auf das betonierte, durch graue Schneeberge ziemlich unübersichtliche Flussufer neben der Historischen Wurstkuchl. Keine Brüstung, keine Barriere. Ein falscher Schritt, und schon …
»Glaub ich nicht«, sagte Sarah neben ihm skeptisch. »Wenn man dort unten ins Wasser fällt, dann treibt man am Ufer entlang, bis man unter das Museumsschiff gerät.« Sie deutete auf das altertümliche Schiff, das einige hundert Meter von ihnen entfernt vor Anker lag. »Oder unter eines der Passagierschiffe, die weiter vorn beim Donaumarkt ankern. Und gerade in der Vorweihnachtszeit werden die Amis ja massenweise hierhergekarrt – da gibt es also viele Kreuzfahrtschiffe, unter die man geraten könnte. Wie du ja weißt.«
In der Tat, das wusste er – wohnte er doch gegenüber besagter Anlegestelle auf der anderen Donauseite und regte sich oft genug über das lautstarke Getöse der Dampfer auf.
»Wenn man allerdings von hier oben fällt und in den Strudel gerät«, sagte Sarah und deutete zwischen die beiden Brückenpfeiler unter ihnen, »und dann von der Strömung mitgerissen wird, ist man ziemlich weit vom Ufer entfernt. Dann ist die Wahrscheinlichkeit viel größer, dass man kilometerweit die Donau hinuntertreibt.«
»Wow. Du bist ja ein echter Donauleichen-Profi.«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Hier ertrinken nun mal leider immer wieder Leute, deshalb bin ich da ganz gut informiert. Du hattest ohnehin Glück, dass das gestern deine erste Regensburger Wasserleiche war.«
»Gut, dann stürzt er also hier ins Wasser«, beschloss Raphael. »Umso unwahrscheinlicher wird der Unfall ohne Fremdeinwirkung, wenn ich ehrlich bin.«
Sarah neigte abwägend den Kopf. »Er könnte natürlich auch an ganz anderer Stelle in den Fluss gestürzt sein.« Wie zur Bestätigung drehte sie sich um und deutete flussaufwärts. »Aber wenn wir von der naheliegendsten Möglichkeit ausgehen, dann hast du recht, ja.«
»Und wenn er absichtlich gesprungen ist?«, sagte Raphael. »Sagen wir, er wurde bedroht – das würde jetzt wieder zu den Kratzern und dem zerrissenen Hemd passen –, dann war das vielleicht seine einzige Möglichkeit –«
»Mit was«, fiel Sarah ihm ins Wort, »müsste man dir drohen, damit du freiwillig da runterspringst, in den mehr oder minder sicheren Tod im eiskalten Wasser? Das macht nur ein ohnehin Lebensmüder.«
Widerwillig pflichtete Raphael ihr in Gedanken bei. Und wenn Wahlner seinem Leben tatsächlich ein Ende setzen wollte …?
Genau das hatte ihn früher unendlich genervt: das leidige Gefühl, nicht zu wissen, wo man am besten ansetzte, wo er doch am liebsten zielstrebig und strukturiert vorging, um nur ja keine Zeit zu verlieren. Erst durch Sarah hatte er gelernt, dass er dieses Brainstorming zu Beginn der Ermittlungen zulassen musste, um den Fall vollumfänglich zu erfassen und alle Varianten wenigstens einmal angedacht zu haben.
»Vielleicht hatte er doch Depressionen«, sagte Raphael also. Depressionen waren natürlich die einfache Universalantwort, schon klar. Andererseits: Nur weil er die Todessehnsucht eines Menschen, der unter dieser Krankheit litt, nicht zu hundert Prozent nachvollziehen konnte, durfte er diese Lösung nicht ausblenden.
»Mag sein, aber ich bin mir sicher, das hätten die Leute um ihn herum bemerkt«, widersprach Sarah wieder. »Zumindest diejenigen, die ihm nahestanden. Seine Frau. Oder Hoyer. Derartig massive psychische Probleme hätte Wahlner unter Garantie nicht verschleiern können, schon gar nicht, wenn er keine Medikamente dagegen eingenommen hat.«
Auch damit hatte sie wohl recht. Nach dem Tod von Isa und dem Baby war es ihm selbst lang genug durch und durch beschissen gegangen. Doch trotz aller Lebensmüdigkeit, die er damals verspürt hatte: Jeder kurz aufblitzende Gedanke, sich selbst umzubringen, war begleitet worden von dem sicheren Wissen, dass er das ohnehin nicht durchziehen würde. Doch selbst ihm hatten damals einige Leute in seinem engsten Umfeld, meistens recht vorsichtig, Depressionen bescheinigt und versucht, ihn dazu zu überreden, sich Hilfe zu holen – allen voran natürlich seine Schwester Miriam, die seit Isas Unfall,
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