Donaugrund (German Edition)
bedeutet natürlich auch, dass das Opfer zwischen diesem tätlichen Angriff und dem Sturz in den Fluss Zeit hatte, seine Jacke zu schließen.«
»Was einen missglückten Raubüberfall irgendeines Halbstarken auf der Steinernen Brücke ziemlich unwahrscheinlich macht«, stellte Raphael fest und sah mich fragend an.
Ich nickte. Wer war schon cool genug, nach einem derartigen Angriff erst mal die Jacke zu schließen? Ich zumindest wäre in Rekordgeschwindigkeit zurück in den Salzstadel gerannt.
Melchior zog seine Handschuhe mit entschiedenen Bewegungen aus, winkte uns zur Schleuse, die in den Sektionssaal führte, desinfizierte sich mit einem strahlenden Lächeln die Hände und schlüpfte in neue Einmalhandschuhe. »Es kommt noch besser«, informierte er uns, als wir endlich neben dem Tisch standen, und schlug das sterile Abdecktuch zurück.
Ich versuchte, die wächserne, aufgeschwemmte, unförmige Haut, das zerschundene Gesicht Jan Wahlners mit dem stabilen Schaum vorm Mund auszublenden und mich nur auf die mit bloßem Auge kaum noch erkennbaren Kratzspuren auf der aufgequollen Haut seiner kalkweißen Brust zu konzentrieren. Herbert hatte mir früher immer gesagt, ich solle mir einfach vorstellen, ich befände mich an einem Filmset oder in der Geisterbahn, um mir selbst vorzugaukeln, das wäre alles gar nicht echt. Wenn ich mich aber außerdem noch darauf konzentrieren musste, durch den Mund zu atmen, klappte das nur selten.
»Sie sehen hier«, sagte Melchior und deutete auf die unbehaarte Brust Jan Wahlners und die seltsam farblosen Kratzer über der linken Brustwarze, »Verletzungen der obersten Hautschicht, die sich exakt unter dem Riss befinden, den Sie gerade im Hemd gesehen haben. Zwar kann man anhand der Verletzungen allein ohne Analyse nicht einwandfrei feststellen, dass sie vor seinem Dod entstanden sind – durch die schlechte Lagerung der Leiche in den letzten Wochen sind eventuelle Einblutungen natürlich schon längst ausgewaschen. Aber da die Jacke ansonsten den Oberkörper des Doden optimal geschützt hat und es keine weiteren Verletzungen gibt – und natürlich anhand des Zustands der Kleidung – kann ich ausschließen, dass die Verletzungen im Wasser entstanden sind. Die Analyse wird das bestätigen. Und wenn die Dodesursache Ertrinken war …«
»… ist somit bewiesen, dass die Verletzungen schon vor seinem Tod da waren«, vervollständigte ich den Satz mit rauer Stimme. Das klang hieb- und stichfest. Schnell räusperte ich mich und schluckte einmal. Mein Mund war durch das verkrampfte Vermeiden von Nasenatmung schon völlig trocken. »Von was könnten diese Kratzer denn stammen, Herr Dr. Melchior? Besonders tief sind sie ja nicht.«
»Das war auch keine mächtige Waffe.« Er zog die Nase kraus. Ganz als wäre er deshalb enttäuscht. »Und sie wirken auch nicht so, als wären sie planvoll entstanden, das zeigen die unterschiedlichen Längen und die Anordnung. Die Kratzer waren quasi ein Nebenprodukt, eben weil der Angreifer irgendwo Halt suchte und das Opfer einfach packte. Also … vielleicht einfach Fingernägel? Die Abstände zwischen den Kratzspuren stimmen auch, wenn man von einer durchschnittlich großen Hand ausgeht.« Liebevoll sah er wieder hinab auf Wahlners bleiche Haut. »Das ist aber zunächst nur eine Vermutung, werte Herrschaften«, fügte er mahnend hinzu. Dabei war auf seine Vermutungen fast immer Verlass.
»Okay, wir haben also ein zerrissenes Hemd«, sagte Michi Bauer dennoch skeptisch, »und Kratzspuren an der Brust, soweit das noch zu beurteilen ist. Können wir da wirklich sicher von einem Kampf ausgehen?«
»Von was wollen Sie denn sonst ausgehen?«, fragte Melchior, ohne aufzusehen.
»Na, es gibt ja auch noch angenehmere Möglichkeiten«, antwortete Raphael mit hochgezogener Augenbraue, »ein Hemd als Kollateralschaden draufgehen zu lassen.«
Melchior sah auf. »Ach so, das meinen Sie. Eher unwahrscheinlich, wenn ich mir das Hemd so ansehe. Sind ja nicht nur die Knöpfe abgesprengt – vergessen Sie den Querriss an der Brusttasche nicht.« Er furchte missbilligend die Stirn. »Na ja, andererseits weiß man ja nicht, was den Leuten alles so einfällt.«
Raphael zwinkerte mir über Melchiors gesenkten Kopf hinweg zu, deutete mit einem unauffälligen Kopfnicken auf sein Hemd und tippte auf seine Armbanduhr. Alles klar, er wollte das also heute Abend zu Ermittlungszwecken nachstellen.
Dr. Melchior ignorierte Michi Bauers anzügliches Grinsen. »Aber nein
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