Donaugrund (German Edition)
– ich denke, man kann getrost ausschließen, dass diese Schäden auf übermäßige Begierde zurückzuführen sind …« Mit einem geheimnisvollen Lächeln sah er in die Runde. »Außerdem habe ich eine weitere Auffälligkeit entdeckt, die ich genauer untersuchen werde.«
Mit großer Begeisterung deutete er auf einen Punkt seitlich am aufgeschwemmten linken Oberschenkel des Toten. Ich beugte mich vor und entdeckte eine minimale Verfärbung sowie leichte Schürfspuren – noch unauffälliger, als die Kratzer auf der Brust es waren.
»Nach der Analyse kann ich Ihnen sagen, ob auch diese Verletzung vor seinem Dod entstanden ist.« Melchior sah aus, als wollte er sich angesichts seines außerordentlichen Spürsinns am liebsten selbst anerkennend auf die Schulter klopfen.
»Besteht die Möglichkeit, dass auch der Angreifer bei dieser Auseinandersetzung Verletzungen davongetragen hat?«, fragte ich.
»Kann sein, muss aber nicht sein«, antwortete Melchior wenig hilfreich mit einem stoischen Achselzucken. »Das lässt sich anhand der Leiche nicht mehr eindeutig nachvollziehen. Und jetzt wollen wir mal.« Er nickte seinem Assistenten zu und entfernte das Tuch.
Ich verfolgte die Obduktion wie üblich aus sicherer Entfernung und mit vor die Nase gepresstem Taschentuch, während Raphael und Michi pflichtschuldig neben Melchior ausharrten, nur selten etwas blasser wurden und sich einigermaßen unauffällig den Finger unter die Nase klemmten. In gutmütiger Walross-Manier interpretierte ich diese Geste heute als Variation der Denkerpose.
Ein paar Stunden später sah Herbert bedauernd von mir zu Raphael. »Also lag er schon seit zwei Wochen unbemerkt in Wasser und Schneematsch auf der Rampe. Die arme Sau …«
»Genau.« Raphael setzte sich auf einen Schreibtisch und hieb mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel. »Aber was natürlich brisanter ist, ist die handfeste Auseinandersetzung vor seinem Tod, von der Melchior so felsenfest überzeugt ist. Und natürlich, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich am Abend der Weihnachtsfeier ertrunken ist.«
»So viel steht also fest«, sagte ich. »Es gab jemanden, der an diesem Abend auf Wahlner alles andere als gut zu sprechen war. Weshalb die vorher schon geringe Wahrscheinlichkeit eines Sturzes ins Wasser ohne fremdes Zutun gegen null geht. Und wir müssen einfach herausfinden, wer ihm das Hemd zerrissen hat. Nur so haben wir den Hauch einer Chance, Wahlners letzte Minuten zu rekonstruieren.«
Herbert nickte. »Ein aus dem Ruder gelaufener Überfall oder eine Schlägerei mit einem Unbekannten direkt auf der Brücke ist eher unwahrscheinlich, oder?«, schlussfolgerte nun auch er.
»Es sei denn, Wahlner hat das Kunststück fertiggebracht, im freien Fall noch schnell seine Jacke zu schließen«, winkte Raphael ab und trabte aus dem Büro – wohl um sich in der Teeküche das neuerdings favorisierte Schoko-Müsli zusammenzupanschen (die überschäumende Backwut seiner zahlreichen Verehrerinnen hatte, sehr zu seinem Bedauern, ein wenig nachgelassen, seit auch die letzte kapiert hatte, dass wir beide nach Feierabend nun gemeinsame Wege gingen). Anscheinend hatte er das Gefühl, hier bei Herbert und mir nichts Spannendes zu verpassen.
»Am besten, ihr spaziert in diese Firma und befragt zuerst diejenigen, deren Aussagen sich von der Masse abheben«, fuhr Herbert fort. »Die könnten irgendwas vertuschen wollen. Und natürlich diejenigen, die mit ihm am meisten zu tun hatten. Oder gibt’s schon andere Strategien?«
Das Telefonklingeln enthob mich einer Antwort. Was wollte der Chef denn jetzt schon? Nennenswerte Ergebnisse konnte er doch wohl noch nicht erwarten.
»Sonnenberg?«
»Schneckmayr hier. Haben Sie einen Moment Zeit, Frau Sonnenberg? Können Sie kurz zu mir ins Büro kommen?«
»Klar«, antwortete ich und wollte noch fragen, ob er damit mich allein oder auch Raphael meinte. Doch er hatte schon aufgelegt. Ob es um den Fall ging? Wie auch immer – Schneck hatte ungeduldig geklungen, also beschloss ich, mich allein in die Höhle des Löwen zu wagen.
»Muss mal zum Chef«, informierte ich Herbert, der statt einer Antwort nur vor sich hin brummte, und machte mich auf den Weg. Entschlossen klopfte ich an Schnecks Bürotür, wartete sein zackiges »Herein« ab und trat ein.
»Hallo, Frau Sonnenberg.« Er rückte seine Brille gerade. »Bitte setzen Sie sich doch.«
Er wartete, bis ich auf den unbequemen Besucherstuhl ihm gegenüber gesunken war, und
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