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Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)

Titel: Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Nink
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sagen konnte, hatte keiner der Männer auch nur ein einziges Wort gesprochen, seit sie in Johannesburg abgeflogen waren. Die Männer lasen auch nicht, und sie schauten sich auch keinen der kenianischen Billigfilme an, die auf den Bildschirmen gezeigt wurden. Die Männer mit den schwarzen Haaren und den Schnauzbärten schienen nur zu fliegen, sonst nichts. Die erste Klasse dagegen – beziehungsweise das, was bei dieser Airline unter erste Klasse lief – war von sechs oder sieben Afrikanern in Beschlag genommen, die angezogen waren wie die Söhne eines Altkleiderhändlers aus Mombasa. Sie schnarchten schon seit Stunden derart laut, dass man weiter hinten im Flugzeug längst glaubte, das gleichmäßige Geräusch werde von den Turbinen erzeugt.
    Siebeneisen fragte eine vorbeihuschende Flugbegleiterin nach einem Drink. Sie kam mit zwei Literflaschen Wodka zurück, in denen nur noch kleine Reste waren, die sie nun in Siebeneisens Plastikbecher schüttete. Er seufzte innerlich und bedankte sich für die ebenfalls servierten fünf Tütchen Erdnüsse. Dann las er weiter:
    In einer Jurte in einem Land jenseits der Morgenröte stimmt ein Mann seine Pferdekopfgeige, aus dem Birkenholz der Taiga ist das Instrument, aus dem Schweif eines Schimmels die Bespannung des Bogens. Eine Pferdekopfgeige klingt wie ein Hybrid aus Cello und Kirchenorgel, ihre Töne sind warme, alles durchflutende Wellen, die Herz und Seele wärmen wie ein Schluck Wodka an einem frostigen Februartag. Und sie zaubert Bilder im Kopf, die Geige! Schon wenige Takte genügen, um Steppen und Wüsten und den ehernen blauen Himmel entstehen zu lassen, und die Sonnenuntergänge und die Herden und überhaupt das ganze weite Land. Wenn die Pferdekopfgeige erklingt, sagen die Mongolen, dann ist einem, als seufze der Wind. Hinter den Hügeln, in der Steppe.
    Irgendetwas an dieser Beschreibung berührte Siebeneisen. Er hatte noch nie eine Pferdekopfgeige gehört, aber dennoch schien etwas in ihm genau zu wissen, wie dieses Instrument klang. Er betrachtete Lawn im Sitz neben ihm. Sie schlief, ihr Kopf lehnte an einem Kissen, das sie gegen die Wand des Flugzeuges drückte. Durch das Fenster fiel das pastellene Licht der Morgendämmerung auf ihr Gesicht. Siebeneisen lächelte sanft. Es war ihm in den vergangenen Wochen seiner Odyssee noch nicht oft so gegangen – jetzt aber verspürte er tatsächlich eine gewisse Vorfreude auf sein nächstes Ziel.
    Vieles in diesem Land ist von einer scheinbar ewigen Zeitlosigkeit. Die Suche nach einem neuen Platz für die Familienjurte, das Beladen der Kamele, das Beobachten der Wolken und die beruhigenden Lieder, die man trächtigen Stuten kurz vor der Niederkunft ins Ohr singt – all das hat sich mit den Jahrhunderten wenig oder überhaupt nicht verändert. Es gibt Momente und Orte bei einer Reise durch die Steppe, da könnte man fast glauben, die Mongolei sei jenes mythische Fleckchen Erde, an dem sich die Zeit zum Stehenbleiben entschieden habe. In denen die Vergangenheit so selbstverständlich ist, dass die Gegenwart sie überhaupt nicht bemerkt. In denen man weiß, dass Dschingis Khan sich sofort zu Hause fühlen würde, kehrte er nach 800 Jahren zurück in das Land, das er einst geschaffen hat.
    Siebeneisen leerte seinen Plastikbecher. Er verrenkte sich in seinem engen Sitz und fischte den kleinen Zettel aus der Hosentasche, den er im Umschlag mit den Tickets gefunden hatte, Wipperfürths karge Informationen, eine Adresse in Ulan Bator, ein Name, »O’Shadys Vorgesetzter, kennen sich aber nicht persönlich«. Außerdem der Hinweis: Kaschmir. Pat O’Shady schien im Wollhandel tätig zu sein. Siebeneisen sah sich um – alle anderen Passagiere schnarchten. Er riss vorsichtig die Seiten mit der Reportage aus der Zeitschrift, faltete sie sorgfältig zusammen und steckte sie in die Hemdtasche. Er würde sie Lawn vorlesen. In einer Jurte in einem Land jenseits der Morgenröte, ganz bald schon.

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    Was wäre der Mensch ohne Listen! Listen machen unser Leben überschaubarer, Listen bringen Ordnung in die verwirrende Welt, Listen zeigen uns, was groß und klein und dick und dünn und beliebt und unbeliebt ist, und weil sich der Mensch gerne an solchen Parametern orientiert, sind Listen logischerweise ungemein populär: Bücher, in denen nichts als Listen aufgelistet werden, haben gute Chancen, ganz weit oben in den Verkaufscharts zu landen, die natürlich auch nichts anderes als Listen sind. Kein Wunder also, dass es so viele gibt.

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