Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)
eingestellt hatte. Siebeneisen konnte sich genau vorstellen, wie Wipperfürth sich wehren würde, wenn er ihm so etwas unterstellte: dass er doch die ganze Zeit schon diese wahnsinnig tollen Deals für seinen Kumpel an Land gezogen habe, dass das Beste doch immer gerade gut genug gewesen sei, all dieses Zeugs. Mich legst du nicht herein, dachte Siebeneisen, als er an Wipperfürth dachte, ich weiß sehr genau, was hier gerade abläuft.
»Bitte schauen Sie: unser Jugendstil!« Der Fahrer zeigte zu einem Neubaugebiet hinüber, an dem sie gerade vorbeiglitten (vielleicht fuhren sie auch einfach nur ganz normal, aber nach dem grauenvollen Gehoppel im Auto von Uchka dem Fahrer kam es ihm so vor, als schwebe dieses Auto hier zehn Zentimeter über dem Asphalt). Die Häuser sahen tatsächlich aus, als habe ihr Architekt Blaupausen aus dem Jahr 1912 verwendet. Siebeneisen entdeckte architektonisch verspielte Villen und kleine Schlösser im Zuckerbäckerstil. Die Gebäude waren neu und teilweise noch nicht bezugsfertig; es sah ganz so aus, als sei Jugendstil gerade sehr populär bei Chinas vermögender Oberschicht.
»Wie Sie ja wissen, war Qingdao für einige schöne Jahre eine Kolonie des Deutschen Kaiserreiches. An diese Zeit soll diese Siedlung mit ihrer Architektur erinnern.«
Eine deutsche Kolonie, dachte Siebeneisen. Ihm war, als habe er das einmal in einer National-Geographic -Ausgabe gelesen und wieder vergessen. Was nicht weiter schlimm war, weil ihr Fahrer sein gesammeltes Wissen nur allzu gerne loswerden wollte. Dass Qingdao früher Tsingtau hieß und von 1898 an reichsdeutsches Protektorat war. Dass zuvor zwei deutsche Missionare ermordet worden seien, worauf Kaiser Wilhelm II . die Marine auslaufen ließ und die Hafenstadt besetzte. Dass es heute in Qingdao nicht nur neue Jugendstil-Siedlungen gebe, sondern mehr originale und intakte wilhelminische Architektur als in Hannover, Düsseldorf, Köln und Hamburg zusammen. Und die Stadt außerdem ein sehr beliebtes Seebad sei. Er reichte ihnen eine Broschüre nach hinten, die Besuchern »eine ewig lebende Brise von Ozean frischer!« versprach. Siebeneisen fühlte sich plötzlich sehr erschöpft.
Der Yaggwar war mittlerweile etliche Serpentinen hinaufgeschwebt. Sie hielten vor einer breiten Treppe, die auf einen Hügel führte.
»Unser Yushan Hill Park. Kommen Sie, machen wir eine Pause. Von dort oben hat man einen guten Blick auf unsere wunderbare Stadt.«
Siebeneisens Brille beschlug bereits beim Aussteigen. Innerhalb von Sekunden war die Welt hinter einem Dunstschleier verschwunden, also blieb er erst einmal stehen und versuchte, den Temperaturwechsel wegzustecken. Als er wieder halbwegs sehen konnte, waren Lawn und der Fahrer schon weit oben auf der Treppe. Den Weg hinauf schmückten aufgeblasene Goldfische und blaue Torbögen, wie man sie aus den Hüpfburgen bei den Straßenfesten der LBS oder ähnlicher verspielter Organisationen kennt. Während Siebeneisen noch darüber sinnierte, dass sehr wohl noch einige asiatische Mysterien ihrer Entschlüsselung harrten, hatte er das Panorama-Plateau erreicht, auf dem leider etliche voluminöse Goldfisch-Aquarien das Panorama verstellten. Die Becken waren übereinandergestapelt und reihten sich entlang eines Geländers, hinter dem das schöne Qingdao lag, das man jetzt allerdings nur durch trübes Goldfischwasser hindurch bewundern konnte. Offensichtlich war das schon anderen Besuchern suspekt vorgekommen, jedenfalls hing an einem der Becken ein handgeschriebenes Schild: Beautiful! Just to show tourist! Look! Very nice! Eine Frau mit umgehängter Schärpe und Megafon nutzte Siebeneisens kurze Verwirrung heimtückisch aus, baute sich unmittelbar vor ihm auf und begann, ihm blecherne Parolen ins Gesicht zu brüllen. Er flüchtete zu Lawn und dem Fahrer, die einen Tisch im Garten des Yushan Hill Restaurants ergattert hatten.
»Sie müssen hungrig sein!« Ihr Fahrer winkte einer Bedienung, deren Namensschild an der Uniform sie als »004« auswies. 004 verschwand und schleppte kurz darauf einen Stapel Speisekarten an ihren Tisch, die den Umfang von Tolstoi-Romanen besaßen. Siebeneisen fand die Werke aus kalligrafischer Sicht mehr als gelungen. Lesen konnte er allerdings nichts.
»Oh! Ich entschuldige mich sehr für diese Unannehmlichkeit!«
Ihr Fahrer schien sich persönlich für die fehlende Übersetzung in den Karten verantwortlich zu fühlen. Er winkte 004 herbei und sprach mit ihr in einem Tonfall, der irgendwo
Weitere Kostenlose Bücher