Donnerstags im Fetten Hecht: Roman (German Edition)
hatte er sich das vorgestellt! Ein Kontakt, ein Abendessen, und schon hatte er seinen Mann.
»Wunderbar! Ich muss ihn unbedingt sehen! Wegen ihm bin ich hier!«
Lawn schaute noch immer auf das Fax, aber ihr Blick war nicht mehr fokussiert, sondern seltsam leer und teilnahmslos. Sie blickte zu Siebeneisen.
»Dieser Mann ist seit etwa 150 Jahren tot.«
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Psychologen kennen Sprachlosigkeit als ein Phänomen, das die unterschiedlichsten Ursachen haben kann. Soziale Verunsicherung etwa ist oftmals der Auslöser oder das sukzessive Verlernen von Kommunikation, wenn man zu lange allein ist. Am häufigsten tritt Sprachlosigkeit auf, wenn der Betroffene mit einer völlig überraschenden Situation konfrontiert wird. Mit dem Anblick eines Elefanten zwischen den Erdbeeren im Garten beispielsweise. Einem fliegenden Hai neben der Tragfläche des Flugzeugs. Oder einer Frau, die einem soeben erklärt, dass man auf der Suche nach einem Mann ist, der seit 250 Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilt. Dass man ihn aber dennoch treffen könnte, weil man, nun ja: auch Geister treffen kann. Auch die Dauer einer Sprachlosigkeit ist in der Wissenschaft höchst unterschiedlich dokumentiert. In über 95 Prozent der Fälle kehrt das Sprachvermögen innerhalb weniger Sekunden zurück. Allerdings sind auch Beispiele dokumentiert, bei denen es den Betroffenen für mehrere Jahre die Sprache verschlagen hat.
All das wusste Siebeneisen natürlich nicht. Er wusste auch nicht, dass sein etwa fünfzehnsekündiges Schweigen in wissenschaftlichen Untersuchungen noch als »statistisch normale Reaktion« eingestuft worden wäre – wobei sein offener Mund und der wirre, abwesende Blick durchaus übliche Manifestationen von Sprachlosigkeit waren. Lawn wiederum nahm Siebeneisens Schweigen zum Anlass, über ihren Beruf zu erzählen. Und davon, wie alles angefangen hatte. Wie sie schon als Kind Dinge wahrgenommen hatte, die andere nicht sahen: Schemen, Schatten, Erscheinungen. Dass ihr das ganz normal vorgekommen sei. Wie sie irgendwann gemerkt hatte, dass diese Erscheinungen zu ihr sprachen. Dass sie diese Gabe dann später zu ihrem Beruf gemacht hatte. Und ganz gut davon leben konnte.
»Sie suchen also Geister?« Etliche Minuten später war sich Siebeneisen immer noch nicht sicher, ob er das richtig verstand, was Lawn ihm da alles erzählt hatte.
»Sie sind darauf spezialisiert, Ungereimtheiten in alten Häusern auf den Grund zu gehen?«
Lawn nickte.
»Dingen wie zuschlagende Türen, aufspringende Kleiderschränke, Gewimmer in leeren Kellerräumen, all so was?«
Lawn nickte.
»Sie suchen dann nach Gründen für die Anwesenheit dieser Geister, um den Hausbewohnern anschließend Ratschläge geben zu können?«
Lawn nickte.
»Und jetzt das Wichtigste: In Ihrem Haus spukt der Geist dieses Mannes hier« – Siebeneisen klopfte mit dem Zeigefinger auf Wipperfürths Fax –, »den ich finden soll? Den Mann, meine ich, nicht seinen Geist. Der spukt bei Ihnen?«
Lawn nickte.
Siebeneisen trank sein komplettes Glas Mint Julep in einem Zug leer.
»Vielleicht handelt es sich bei dem Gesuchten ja um einen Nachfahren?«, schlug Lawn vor, als Siebeneisen von der Toilette zurückkam, »das könnte doch die frappierende Ähnlichkeit erklären, oder nicht?«
»Hm. Könnte natürlich sein.«
Siebeneisen war übel. Das Gerede über Gespenster beunruhigte ihn nicht – eher die Erkenntnis, dass die Rechercheergebnisse aus Oer-Erkenschwick nicht stimmten. Was wiederum bedeutete, dass neue Komplikationen ins Haus standen. Und natürlich konnte die Übelkeit, die in kurzen Wellen über ihn hereinbrach, auch am Essen liegen. Ganz bestimmt konnte sie das.
Nach der höllenscharfen Gumbo hatte ihnen der Kellner rote Bohnen mit Reis serviert, angeblich seit Anbeginn aller Zeiten das traditionelle Montagsgericht der Stadt (Louis Armstrong, wusste Lawn, habe seine Korrespondenz mit red beans and ricely yours unterschrieben). Die Bohnen waren zusammen mit geräuchertem Schweinefleisch, Zwiebeln und Knoblauch zubereitet und anschließend wohl mit einer Teetasse Tabasco gewürzt worden, anders ließen sich die pyrotechnischen Kapriolen nicht erklären, die sich in Siebeneisens Mund und Rachen abspielten. Und jetzt gab es zum Abschluss noch ein Dessert, Beignets, spritzgebackene Krapfen, mit einem Zentimeter Puderzucker. Soweit er das durch seine verstaubte Brille erkennen konnte, sah Lawn aus, als sei sie mit dem Gesicht in eine zwanzig Zentimeter breite und zwei
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