Doppelspiel der Leidenschaft (German Edition)
einen Korb, den sie auf einem Regal über dem Kühlschrank gefunden hatte. Dann ging sie in den Garten, wo der Zaun von Geißblatt fast überwachsen war. Kiley gefiel die Vorstellung, wie Nicolò einen Ableger von der Hecke seines Großvaters hierher gepflanzt hatte. Sie schnitt einen blühenden Zweig ab und befestigte ihn am Henkel des Korbes.
Dann rief sie ein Taxi. Zum Glück wusste der Fahrer den Weg zum Bürogebäude der Dantes. Dort angekommen, ging Kiley durch eine große Glastür in die Eingangshalle, die sich über drei Etagen erstreckte.
Kiley bewunderte die elegante Ausgestaltung und sah den Sonnenstrahlen zu, die sich auf einer Glasskulptur brachen, die von der Decke hing und lodernde Flammen darstellte.
Dann wollte sie sich an den Portier wenden, doch ein älterer Mann mit dichtem weißem Haar kam auf sie zu. „Entschuldigung“, sagte er, und seine dunkle Stimme verriet einen unverkennbaren italienischen Akzent. „Sind Sie Kiley O’Dell?“
Kiley lächelte freundlich. „Ja, das heißt, neuerdings Kiley Dante.“
„Ja, natürlich.“ Er betrachtete sie mit klugen goldbraunen Augen. Offenbar war er ein Mann, dem man nichts vormachen konnte – und dennoch gütig. „Dann ist es wirklich an der Zeit, dass wir uns kennenlernen. Ich bin Primo Dante. Wollen wir uns das steife ‚Sie‘ gar nicht erst angewöhnen, oder?“
Kileys Sympathie für Primo wuchs. „Einverstanden. Du bist also Nicolòs Großvater. Ich habe schon viel von dir gehört. Du und Nonna, ihr habt ihn und seine Brüder nach dem Tod ihrer Eltern aufgezogen.“
„Ja. Nicolò, Severo und die Zwillinge.“ Primo nahm ihre Hand und küsste Kiley auf beide Wangen. „Du willst wohl Nicolò besuchen?“
Sie zeigte auf den Korb. „Ja, vielleicht möchte er etwas essen.“
Ganz leicht fuhr Primo über das duftende Jelängerjelieber am Henkel. „Und was bringst du ihm Gutes?“ Aufmerksam hörte er zu, als Kiley ihm alles aufzählte. „Ich sehe schon, du kennst Nicolòs Geschmack schon sehr gut. Und für dich selbst? Hast du für dich nichts dabei?“
Ein wenig verlegen gab sie zu: „Doch. Tapiokapudding.“ Dieses aus der Stärke der Maniokwurzel herstellte Dessert hatte Kiley in der Zeit mit Nicolò zu schätzen gelernt. Sie lachte. „Keine Ahnung, wieso ich eine solche Schwäche dafür entwickelt habe.“
Primo fiel in ihr Lachen ein. „Interessant, wie einem die Dinge erscheinen, wenn man sie vorurteilsfrei betrachtet …“
„Oder auch, wie sie einem nicht mehr erscheinen“, ergänzte Kiley.
„Ausgezeichnete Beobachtung“, lobte Primo. Dann wies er auf die Aufzüge. „Soll ich dich ein Stück begleiten?“
„Oh, das wäre nett.“
„Hast du dich von deinem Unfall erholt?“, erkundigte Primo sich höflich.
„Körperlich schon.“ Sie runzelte leicht die Stirn, als sie zusammen den Aufzug betraten. „Aber mein Gedächtnis habe ich noch nicht wiedererlangt. Obwohl …“
„Ja …?“
Sie zögerte. Irgendwie wünschte sie, Primo etwas anzuvertrauen, was sie noch nicht einmal Nicolò gesagt hatte. „Gestern war ich nah daran, mich an etwas zu erinnern.“ Sie erzählte ihm alles von ihrem Beinahe-Unfall. „Da tauchte etwas vor meinem inneren Auge auf.“
„Und was?“
„Etwas von meinem ersten Unfall, vermute ich.“
Bedächtig nickte Primo. „Gut möglich. Die ähnliche Situation kann durchaus so eine Erinnerung ausgelöst haben.“
Sie sah ihn an, bemerkte sein freundliches Interesse. Seine sympathischen Züge verrieten reiche Erfahrungen, gute wie schlechte. „Ja. Leider habe ich mein Gedächtnis nicht wiedererlangt, aber für einen Sekundenbruchteil schien es so. Ich empfand Schmerz, Angst und …“
„Ja?“, fragte er teilnahmsvoll. „Wovor hast du Angst bekommen, Kiley O’Dell?“
„Dante“, verbesserte sie. „Ich weiß, dass ich mir erst nicht sicher war, ob ich den Namen annehmen wollte, als Nicolò und ich geheiratet haben. Aber es ist wie mit dem Tapiokapudding: Auf einmal schätze ich Dinge, die mir vorher nichts bedeutet haben.“
„Das war keine Antwort auf meine Frage“, stellte Primo gutmütig fest.
Sie lächelte. „Stimmt.“ Wieder ernst fuhr sie fort: „Ja, ich habe Angst gehabt, vermutlich vor dem Unfall und den Schmerzen.“
„Oder vielleicht vor dem Leben, das du vorher geführt hast. Vielleicht ziehst du es unterbewusst vor, dich nicht zu erinnern.“
Kiley spürte ihr Herz schneller schlagen. Gut möglich, dass er recht hatte. „Glaubst du?“
Primo zuckte
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