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Doppelspiel

Doppelspiel

Titel: Doppelspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baldacci
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die den alten Fedir Kuchin gekannt hatten. Er hielt die Bibel in der Hand. Natürlich war die Sowjetunion gegen jede Form von organisierter Religion gewesen, das ›Opium fürs Volk‹, wie Marx es ausgedrückt hatte. Doch Wallers Mutter war Französin und fromme Katholikin gewesen, und sie hatte ihren Sohn auch religiös erzogen, obwohl das damals sehr gefährlich gewesen war. Jede Nacht hatte sie ihm aus der Bibel vorgelesen, wenn sein für gewöhnlich betrunkener Vater eingeschlafen war.
    Was Waller als Erstes an den Geschichten gefallen hatte, war, wie viel Gewalt in einem Buch beschrieben wurde, bei dem es vorgeblich nur um Liebe und Frieden ging. Viele Menschen wurden in diesem Buch auf Arten ums Leben gebracht, die Fedir Kuchin niemals angewendet hätte. Jede Nacht hatte er mit seiner Mutter das Vaterunser gebetet. Dabei hatte sie besonders zwei Zeilen immer wieder betont.
    »Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.«
    Waller wusste nur allzu gut, welches ›Böse‹ sie damit gemeint hatte: ihren Ehemann.
    Seine arme Mutter, eine von Grund auf gute Frau. Und so wenig sie auch vom Bösen verstand, ihr Sohn verstand es umso mehr. Mit der richtigen Motivation war jeder zu furchtbarer Grausamkeit fähig, zu Barbarei und schrecklicher Gewalt. Eine Mutter tötete, um ihr Kind zu beschützen, oder ein Kind tötete für seine Mutter. Und ein Soldat tötete für sein Land, und Waller hatte sowohl für seine Mutter als auch für sein Land getötet. Und er war gut darin, denn er verstand, was für eine Denkart dafür nötig war. Er war nicht unsensibel, was Gewalt betraf; er respektierte sie. Er setzte sie nicht willkürlich ein. Doch wenn er sie einsetzte, dann konnte er nicht behaupten, dass er das nicht auch genoss. Aber machte ihn das zu einem bösen Menschen? Vielleicht. Würde seine Mutter ihn als böse betrachten? Mit Sicherheit nicht. Er hatte für sein Land getötet, für seine Mutter und schlicht um zu überleben. Wenn ihn jemand schlug, dann schlug er zurück. Eine gerechtere Regel gab es nicht. Er war, wer er war. Und er war sich selbst stets treu geblieben, während andere Menschen ständig eine Maske trugen und ihr wahres Ich hinter einer Mauer von Lügen verbargen. Sie lächelten ihre Freunde an, nur um ihnen dann ein Messer in den Rücken zu rammen. Und wenn man das mit in Betracht zog, wer war dann wirklich der Böse?
    Der Löwe brüllte, bevor er angriff, während die Schlange sich lautlos an ihr Opfer schlängelte, um dann die Zähne in das überraschte Fleisch zu schlagen.
    Und ich bin ein Löwe … Oder zumindest war ich das einmal .
    Waller nahm einen alten Filmprojektor aus dem Spind und schloss ihn an. Dann öffnete er erneut die Schreibtischschublade und holte eine Filmrolle heraus. Die legte er in den Projektor ein und richtete ihn auf die nackte Betonwand. Zu guter Letzt schaltete er das Licht aus und den Projektor an. Auf der Wand erschienen dreißig Jahre alte Schwarz-Weiß-Bilder. Ein junger Fedir Kuchin in voller Uniform trat ins Bild, und der alte Kuchin lächelte stolz, als er sein jüngeres Ich sah.
    Auf der Wand marschierte der junge Kuchin ins Zentrum einer Anlage, die von hohen Stacheldrahtzäunen und Wachtürmen umgeben war. Er sagte irgendetwas, und Bewaffnete trieben ein Dutzend Menschen vor die Kamera und zwangen sie, vor Kuchin niederzuknien. Da waren vier Männer, drei Frauen, der Rest Kinder. Kuchin beugte sich vor und sagte etwas zu jedem von ihnen, und Waller hinter seinem Schreibtisch formte die gleichen Worte mit den Lippen. Das war eine seiner liebsten Erinnerungen. An der Wand führte der Schwarz-Weiß-Kuchin die Kinder beiseite, weg von den Erwachsenen. Dann holte er Süßigkeiten aus der Tasche und tätschelte einem kleinen Mädchen sogar den Kopf, und auf der anderen Seite des Schreibtischs nahm Waller eine jahrzehntealte, steinharte Schokoladentafel aus der Tasche, die noch von ebendiesem Ereignis stammte.
    Während die halb verhungerten Kinder gierig die Süßigkeiten verschlangen, ging Kuchin wieder zu den Erwachsenen, zog die Pistole und exekutierte jeden Einzelnen von ihnen mit einem Schuss in den Hinterkopf. Und als die Kinder schreiend zu ihren toten Eltern rannten, erschoss Kuchin auch sie. Die letzte Kugel jagte er in den Rücken eines kleinen Mädchens, das den Kopf seiner toten Mutter umklammerte. Die letzte Einstellung zeigte Kuchin, wie er einen halb gegessenen Schokoladenriegel aus den toten Fingern eines Jungen wand und

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