Dorn: Roman (German Edition)
konnte man ein ganzes Dorf ein Jahr lang ernähren.
Bewundernswert war Lias Fähigkeit, mit dem fremden Pferd Kontakt aufzunehmen. Es schien mir beinahe, als könne sie alleine durch das Auflegen ihrer Hand auf das Fell des Tieres auf ihre eigene Art und Weise mit ihm sprechen.
Ich war gespannt, was sie noch für Geheimnisse zu offenbaren hatte. Zum Beispiel in ihrem Rucksack.
Leichte Zweifel überkamen mich. Was war, wenn sie doch irgendetwas im Schilde führte? Vielleicht hatte sie König Hroths Krone gestohlen oder etwas ähnlich Absurdes.
Ich schob die Gedanken beiseite. Nein, verflucht noch mal! Ich wollte gerne an die Redlichkeit der Menschen – und auch Elben – glauben, die mich umgaben. Aber vollkommen gefeit vor dem Aberglauben der Reichsbewohner konnte ich nicht sein – schließlich war ich ja selbst einer. Wenn auch ein privilegierter.
Nach dem Abstieg von Burg Tanne über den gewundenen Pfad, folgten wir der Straße, die sich durch einige immergrüne Wiesen und Auen wand. Mitten hindurch durch das hügelige Vorland des Falkengebirges, das sich in unserem Rücken erhob. Falkenberg hatte seinen Namen nicht von ungefähr. Und auch das Gebirge nicht. Unzählige Falken nisteten hier im südwestlichen Ausläufer des großen Kamms. So war es wohl schon seit Menschgedenken gewesen. Der Name war also Ergebnis einer natürlichen Genese.
Dann passierten wir die gleichnamige Hauptstadt. Wobei sich die meisten der anderen Markgrafen ja vor Lachen zu schütteln begannen, wenn jemand diesen Ort von vielleicht zweitausend Seelen als »Hauptstadt« bezeichnete. Aber so war es nun einmal.
Falkenberg hatte seit jeher einen schweren Stand unter den Fürstentümern des Ehernen Reiches – bereits vor dem langen Krieg der Eisernen Brüder. Damals, vor etwas über hundert Jahren, hatte sich das Reich zeitweise über siebzehn Fürstentümer erstreckt. Auch der größte Teil der Länder, die nun als die Verlorenen Lande bekannt und berüchtigt waren, hatte dazugehört. Doch das waren Geschichten, die lange in der Vergangenheit begraben waren.
Heutzutage war das Eherne Reich auf sechs Fürstentümer zusammengeschrumpft. Fünf von diesen Fürstentümern waren immer schon groß und mächtig gewesen. Entsprechend naserümpfend wurde Falkenberg gern betrachtet. Ein kleines Fürstentum. Ein winziges, um genau zu sein. Dazu gehörten einige sehr fruchtbare Böden, eine Hauptstadt, so wie eine Handvoll Bauern- und Fischerdörfer. Eine militärische Macht besaß Falkenberg quasi nicht. Die Garde bestand zwar aus tapferen und gut ausgebildeten Männern und Frauen, aber ihre Zahl war vollkommen lächerlich, verglichen mit den Armeen, die Länder wie Gamar oder Lilienbach im Ernstfall zu stellen vermochten.
Allerdings war im Ehernen Gesetz festgeschrieben, dass jedes der sechs Fürstentümer in allen Belangen des Reiches gleichberechtigt war. So mochten in Lilienbach vielleicht ein paar Dutzend Mal so viele Menschen leben wie hier, aber auf politischer Ebene besaß es bei allen Entscheidungen dasselbe Stimmgewicht wie Falkenberg. Der erste König des Ehernen Reiches, Aan der Große, hatte seinerzeit eigens verfügt, dass Falkenberg unabhängig von anderen Fürstentümern Bestand hatte. Angeblich, weil er selbst aus der Gegend stammte.
Und zu allem Überfluss war die Familie von Falkenberg auch noch dafür bekannt, gerne einmal eine äußerst liberale Position einzunehmen. Etwas, das mir schon mein Großvater gerne eingetrichtert hatte: Wenn du später einmal regieren solltest, dann lass’ die übrigen Markgrafen doch so viel zetern wie sie wollen. Die Hauptsache ist, du triffst eine gerechte Entscheidung. Du hast nicht viel zu verlieren, und Falkenberg hat es auch nicht. Aber die Menschen im Reich, die haben viel zu verlieren.
Ein Lächeln der Erinnerung an sonnigere Tage stahl sich auf mein Gesicht. Ja, als mein Großvater noch lebte … als mein Vater noch lebte. Bei den Göttern, was waren das doch für zerbrechliche Glücksmomente gewesen, die man nicht zu schätzen gewusst hatte! Denn schließlich war all das viel schneller vorbei gewesen, als ich es mir hatte ausmalen können. So, wie das Leben einem manchmal wie ein schneidender Wind ins Gesicht blies …
»Dieses Land ist schön«, unterbrach Lia meine Tagträumerei. Sie sah in den wolkenverhangenen Himmel und atmete tief ein.
»Das finde ich auch«, sagte ich – völlig unschlüssig darüber, ob ich überhaupt etwas dazu sagen sollte, oder ob es dem
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